1. Die Funktion von Nord Stream
Nord Stream 2 ist eine moderne Gaspipeline. Die Quelle am einen Ende, die Erdgasfelder in Westsibirie, wandert mit wachsendem Ausbeutungsgrad gen Norden, folglich ist die Pipeline durch die Ostsee kürzer und ihrer Modernität wegen weit energieeffizienter und weniger klimaschädlich als die aus sowjetischer Zeit noch stammenden Pipelines durch Polen (Jamal) und insbesondere durch die Ukraine (UGTS), die Westsibirien ebenfalls mit EU-Europa verbinden. Das ukrainische System ist arg in die Jahre gekommen, seine Zuverlässigkeit ist fraglich, da lange Zeit keine Modernisierung vorgenommen wurde – und das mit gewisser Zwangsläufigkeit: Der Transport durch moderne und kürzere Pipelines weiter im Norden stand im Raume, und die isolierte Renovierung des ukrainischen Teils machte keinen rechten Sinn, wenn Russland nicht dasselbe für seinen Teil der Zuführung unternähme. Es hätte Einvernehmen bedurft, das aber gab es nicht.
2. Das Schlachtfeld um Nord Stream 2: Der aktuelle Stand
Um rechtmäßig auf Dauer in Betrieb gehen zu können, bedarf Nord Stream 2 zweier unterschiedlicher Arten von Genehmigungen.
Die eine ist die technische Betriebsgenehmigung. Die hat das Bergamt Stralsund in seiner am 31. Januar 2018 publizierten Entscheidung erteilt, geknüpft an Bedingungen. Eine war, dass die technische Konstruktion der Pipeline beendet ist – das war am 10. Juni 2021 für Strang 1 und am 10. September 2021 für Strang 2 der Fall. Ausstand dann noch die technische Zertifizierung – welche die USA mit Sanktionsdrohungen für die Spezialunternehmen, die dafür die Kompetenzen haben, zu verhindern suchten. Am 4. Oktober 2021 haben sowohl die Nord Stream AG als auch die Danish Energy Agency (DEA) bestätigt, dass ein Strang von Nord Stream 2
„can be put in operation, because Nord Stream 2 AG has fulfilled relevant conditions including conditions concerning certification.“
Es ist nun am Bergamt Stralsund, die vorgelegten Dokumente der technischen Zertifizierung zu prüfen und zu akzeptieren – und damit zu genehmigen, dass durch die neue Pipeline Gas zu strömen beginnt.
Das andere ist die Genehmigung gemäß den gaswirtschaftsrechtlichen Bedingungen. Da ist durch EU-Gesetzgebung auf den letzten Metern ein Verhau geschaffen worden, der schwer zu durchbrechen ist. Faktisch gab es 2019 eine Lex Gazprom. Mit der wurden nachträglich Bedingungen geschaffen – gegen die international üblichen Sitten des Investitionsschutzes wurde die neue Regelung nicht an den Termin der Genehmigung sondern an den Termin der Fertigstellung der genehmigten Pipeline geknüpft. Diese Lex Gazprom hat wie erwartbar zu einem wahren juristischen Grabenkrieg geführt – Zwischenergebnis ist, dass der Versuch von Gazprom, die nachgeschobene Regelung für ungültig erklären zu lassen, nicht erfolgreich war.
Ergänzend hatte die Nord Stream 2 AG ihre Zertifizierung als Unabhängiger Transportnetzbetreiber beantragt. Weil ihr Sitz in der Schweiz, einem nicht-EU-Land, liegt, ist es Aufgabe des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zu bestätigen, dass durch die Zertifizierung bzw. die Zulassung der Nord Stream 2 AG als Unabhängiger Transportnetzbetreiber die Sicherheit der Elektrizitäts- oder Gasversorgung Deutschlands und der EU nicht gefährdet wird. Bevor die BNetzA die Zertifizierung aussprechen kann, ist die Entscheidung der EU-Kommission zur Stellungnahme vorzulegen, und die BNetzA muss dieser Stellungnahme in ihrer Entscheidung „so weit wie möglich Rechnung tragen“ (EnWG 2021, §4b). Um die Bedingung des Third Party Access zu erfüllen, könnte Gazprom einem Wettbewerber einen Teil der Kapazität von NS2 und EUGAL verkaufen. Der Öl- und Gaskonzern Rosneft, der in einem natürlichen Spannungsverhältnis zu Gazprom steht, weil Letzterem ein Exportmonopol für Erdgas zuerkannt wurde, hat dafür sein Interesse bereits bekundet.
Das Verfahren nimmt seinen Gang, es gibt gesetzlich enge Fristen. Zu klären ist das Sicherheitsrisiko einer Gazprom-Tochtergesellschaft als Netzbetreiber (für ein Stummelstück der Pipeline) – wo für Gazprom als Gaslieferant die Frage (negativ) entschieden ist. Kann eine nicht-gleiche Antwort für Gazprom als Sicherheitsrisiko ernstlich vernünftig sein?
3. Zur Überschuss-Transport-Kapazität, rechtlich
Das Seltsame an der sicherheitspolitisch dominierten öffentlichen Debatte um die Zulassung von Nord Stream 2 ist, dass es zwar um Sicherheit gehen soll, die technische Sicherheit bei Blockade von Nord Stream 2 aber kaum Thema ist. Es wird meist lediglich messerscharf geschlossen: Weil es das ukrainische System (UGTS) „gibt“, sei eine „Erweiterung“ der Transportkapazitäten unnötig, man produziere mit Nord Stream 2 einen unnötigen Überschuss. Die Alltags-Erfahrung, dass technische Einrichtungen altern und eines Tages entweder grundrenoviert oder ersetzt werden müssen, wird für das UGTS ausgeblendet.
Dessen ungeachtet gilt und teile ich das Urteil: Die EU ist dabei, Pipeline-Ferntransport-Import-Kapazitäten zu fördern, die über ihren Import-Bedarf an Erdgas unter den Restriktionen der Klimapolitik deutlich hinausgehen – das gilt auch dann, wenn man eine gewisse Reserve-Kapazität als erforderlich in Rechnung stellt. Das macht der jüngste „Europe Gas Tracker“-Bericht (Abb. ES1) von Global Energy Monitor (GEM) wieder deutlich. Das klimapolitische Motiv des Anrennens deutscher NGO gegen NS2 teile ich also, nur macht es mir wenig Sinn, an NS2 isoliert ein Exempel zu statuieren – Kampfarena hat Brüssel zu sein und die dortige Förderpolitik für Gas-(Import-)Pipelines insgesamt. Und das ist auch der Fall, da sind die Umwelt-NGOs am Ball.
Auch zu der Frage des Bedarfs an Import-Transportkapazitäten hat man sich als Zivilgesellschaft an das Recht zu halten – und es wäre klug, den da sich zeigenden rechtskulturellen Großreformbedarf zur Kenntnis zuzulassen. Deswegen lohnt ein Blick in den technischen Betriebsgenehmigungsbescheid des Bergamtes Stralsund vom 31. Januar 2018. Roland Götz hat das in seinem Aufsatz „Der Streit um Nord Stream 2“ wie folgt zusammengefasst:
„Die für ein Gasleitungsprojekt verlangte „Planrechtfertigung“ muss nachweisen, dass der Bau „vernünftigerweise geboten“ ist, wenn nicht durch Nutzung vorhandener Leitungen eine sichere, preisgünstige und umweltverträgliche Versorgung erreicht werden kann. Dass NS2 diese Bedingungen erfüllt, bejahte die zuständige Behörde, das Bergamt Stralsund, in ihrer am 31. Januar 2018 publizierten Entscheidung (Bergamt Stralsund 2018, S. 92–93). Das Amt übernahm die von der Antragstellerin, der Nord Stream 2 AG, vorgetragene Ansicht, wonach der Gasbedarf Europas (hier der Bedarf in der ehemaligen EU 28 zuzüglich der erwarteten Gasimporte der Schweiz und der Ukraine aus der EU) zwischen 2020 und 2050 bei rund 500 Mrd. m3 stabil bleiben, die Eigenförderung von Erdgas zurückgehen und der Importbedarf daher ansteigen wird (Bergamt Stralsund 2018, S. 95).
Das Amt lehnte die Berücksichtigung von „Zielszenarien“ ab, die das Erreichen wünschenswerter energiepolitischer Ziele voraussetzen und dabei „gesellschaftspolitische und soziale Limitierungen“ außer Acht lassen. Das Amt entnimmt Europas gegenüber 2015 zusätzlich auftretenden Importbedarf (2025: 57 Mrd. m3, 2045: 123 Mrd. m3 und 2050: 110 Mrd. m3) stattdessen aus „Referenzszenarien“, die auf der Fortschreibung gesetzlich festgelegter energiepolitischer Ziele beruhen (Bergamt Stralsund 2018, S. 95, S. 98).
Dieser Bedarf kann nach Auffassung des Amts nicht durch vermehrte Importe aus Norwegen, Afrika oder aus Zentralasien gedeckt werden. Höhere Gaslieferungen aus Russland durch die Ukraine kämen ebenfalls nicht in Frage, weil über diesen Weg langfristig nur ein Transit von 30 Mrd. m3 technisch gesichert wäre. Auch zusätzliche LNG-Importe könnten die so entstehende Gaslücke nicht preisgünstig schließen, weswegen mehr Gas aus Russland gebraucht wird. NS2 stellt dafür nach Ansicht der Behörde die erforderliche zusätzliche Kapazität zur teilweisen Abdeckung der erwarteten Versorgungslücke zur Verfügung (Bergamt Stralsund 2018, S. 95–96).“
4. Rechtsstaatlich kämpfen
Das bedeutet: Rechtsstaatlich kämpfen heisst nun einmal mit begrenzten Mitteln kämpfen.
- Der Bedarf an der Pipeline wurde rechtlich geprüft und bestätigt – das kann man nicht mehr einfach durch Bestreiten des Bedarfs in Frage stellen.
- Die beabsichtigte Klimapolitik der EU wurde bei dieser Prüfung nicht in Rechnung gestellt – das ist ein Grundzug verwaltungsrechtlicher Kultur, die man als solche in Frage stellen sollte, ohne im Einzelfall ein Exempel statuieren zu wollen.
- Der marode Status des UGTS wurde von der Behörde in ihrem Rechtsakt in Rechnung gestellt – das sollte man als NS2-Bestreiter zur Kenntnis nehmen, auch das kann man nicht einfach durch Bestreiten in Frage stellen.
Rechtsstaatlicher Widerstand gegen Nord Stream 2 erfordert deutlich mehr und anderes als mit guten Argumenten sich gegen die Pipeline auszusprechen. Und die Politik ist nicht allmächtig.
Bildquelle: Wikipedia, von Samuel Bailey (sam.bailus@gmail.com) – Eigenes Werk, CC BY 3.0