Im Oktober 1961 wurde zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen geschlossen. Nicht von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung, sondern von einer konservativen Regierung Adenauer, beziehungsweise vom damaligen Außenminister von Brentano; es wurde auch nicht im Kanzleramt geschlossen, sondern in einem Haus im nahegelegenen Bad Godesberg.
Die Folgen des Anwerbeabkommens waren enorm: Positive Folgen vor allem in der Türkei, weil das Land seine Arbeitslosigkeit an jungen Männern exportieren konnte, bis 1973 – dann von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung – das Abkommen ausgesetzt wurde. Diese Arbeiter haben in Deutschland die Wirtschaftskraft gestärkt, oft waren sie in den Betrieben die Besten in Betriebsrat und Vertrauensleutekörper. Ihre Überweisungen ins Heimatland haben Millionen dort lebenden Angehörigen das Leben leichter gemacht.
Das Abkommen ist in der Rückschau eine sozialpolitische Großtat. Aber zu Beginn stand anderes Pate.
In der Bundesrepublik hatte sich eine prosperierende Wirtschaft entwickelt. Man nannte das „Wirtschaftswunder“. Die großen sozialen Kontrahenten Gewerkschaften und Arbeitgeber hatten beschlossen, die Löhne der Beschäftigten real steigen zu lassen und zwar in Größenordnungen, die die Kapitalakkumulation der Unternehmen nicht behinderte. Die Grundlage für rasant ansteigende Investitionen ohne nennenswerte Fremdverschuldung war gelegt. Westdeutsche Waren wurden zudem hinter der „schützenden Wand“ eines festen Wechselkurses mit der führenden Währung, dem US-Dollar, fabelhaft konkurrenzfähig. Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre gingen freilich die Ausbau-Investitionen zurück.
Die Bundesrepublik hatte zwischen 1949 und 1960 rund 13 Millionen Menschen in die Arbeitsmärkte integriert – Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße, Flüchtlinge aus der damaligen SBZ und Arbeitskräfte aus Italien sowie aus Jugoslawien. Eine große Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften bestand damals nicht.
Als das Abkommen in Godesberg geschlossen wurde, hatte die Spitze des türkischen Militärs ein Jahr zuvor den Ministerpräsidenten Adnan Menderes abgesetzt, den ersten 1950 frei gewählten türkischen Regierungschef. Er wurde am 15. September 1961 aufgehängt. Es unterzeichnete also auf der türkischen Seite keine frei gewählte Regierung sondern eine Art Junta.
Die Türkei war damals ein extrem armes Land, was sie –Gott lob – nicht mehr ist. Es herrschte Armut und Landflucht. Ein ökonomischer Prozess, wie er mit Blick auf Westdeutschland kurz beschrieben wurde, war von den Herrschenden in der Türkei nicht zu erwarten. Hinter dem Anwerbeabkommen stand wohl als entscheidender Grund die Stabilisierung der Türkei als NATO-Land.
Das Anwerbeabkommen war auf zeitweilige Arbeit, auf Rotation und auf kulturelle Isolation ausgelegt. Es wurde war im Laufe der Jahre geändert, aber die Grundeinstellung gegenüber den türkischen Arbeitern blieb, bis Ende der siebziger Jahre der Sozialdemokrat Heinz Kühn als erster namhafter Politiker dafür warb, die sogenannten „Gastarbeiter“ und deren Familien als echte Einwanderer zu begreifen und auf Integration umzuschalten.
Es ist eine Art „grandiose Hinterlist“ der Geschichte, dass aus der Million abschätzig angesehener türkischer Arbeiter und deren Familien ein untrennbarer Teil unserer Gesellschaft geworden ist. Sie sind Teil des Landes und wir sind stolz darauf. Manches liegt noch im Argen. Das ist wahr. Aber die ersten sechzig Jahre sind geschafft.
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