Es sieht so aus, als habe man den Deutschen gestern Abend den ersten Akt des Theaterstücks „Das fliegende Klassenzimmer“ geboten. Im Fernsehen, vor einem Millionenpublikum, nachdem die ersten Hochrechnungen zur Bundestagswahl veröffentlicht worden waren. Frei nach Erich Kästners Jugendbuch, das eigentlich kein Jugendbuch ist, sondern eine dringliche Ermahnung an die Erwachsenen, sich anständig zu benehmen.
Das Flugzeug mit der Schülerschar hob zwar wie in Kästners Buch nicht ab, brauchte also auch keinen Sprit, es war sozusagen klimaneutral, aber man besichtigte spielerisch bereits weit entlegene, interessant-exotische Gefilde wie zum Beispiel Jamaika. So jedenfalls haben sich Repräsentanten von FDP und der Partei Die Grünen mit dem unterlegenen Kanzlerkandidaten der CDU/CSU Armin Laschet im „geistigen Schlepptau“ verhalten. Als habe sich die Republik mal eben so geschüttelt und nun gehe es weiter.
Was der Bundeswahlleiter am frühen Morgen danach als vorläufige Ergebnisse aber präsentierte, das hatte es in sich: Den Unionsparteien sind im Vergleich zu 2017 rund 2,5 Millionen Wählerinnen und Wähler „von der Fahne gegangen“, die SPD hat ebenfalls im Vergleich zu 2017 etwa 2,5 Millionen Wählerinnen und Wähler hinzu gewonnen. Was sich am 26. September abgespielt hat, das war eine Art „Völkerwanderung mit dem Wahlzettel“.
Die Unionsparteien haben im Westen kräftig verloren und im Osten ist die CDU gebietsweise „ von der Platte geputzt“ worden, im Süden wurde die CSU richtig rasiert; so dass sich von Aachen-Land bis an die polnische Grenze ein überbreiter roter Streifen gebildet hat. Die Linke ist hingegen regelrecht zerbröselt: Zu viel Streit, zu wenig Erfolg, zu viel politischer Magerquark.
In Städten mit starkem universitären Einschlag hat sich Grün etabliert und die Regionen der alten ostdeutschen Industriegebiete weisen einen beachtlichen AfD- Bereich auf. Was zur Frage führt: Wie wird die Befindlichkeit der Union sein, wenn sie mit einem solch traumatischen Wahlergebnis im Kopf vier Jahre neben einer dreisten AfD verbracht hat.
Schwarz ist das Land also nicht mehr, wie noch 2017. Eine Anzahl von bis zu 210 Abgeordneten der SPD wird den neuen Bundestag bevölkern (statt 153 wie bisher) und auch über 110 grüne MdB belegen den Schwarz-Schwund.
Freilich gehört auch das zum Wahlergebnis: Der CDU vor allem ist es binnen weniger Tage vor dem Wahltag noch gelungen, zu mobilisieren, sodass am Ende dennoch knapp 15 Millionen Bürgerinnen und Bürger ihr Kreuz bei den Unionsparteien malten. Sie hat eine ganze Menge Leihstimmen von der FDP zurückgeholt. Die Union ist demnach immer noch mobilisierungsfähige und machtvolle Konkurrenz. So wie auch die SPD weist die Union noch Wahlkreise auf, in denen sie 40 Prozent und mehr holen kann. Aber solche Wahlkreise sind seltener geworden.
Meist kämpfen die Frauen und Männer, die sich um einen Wahlkreis bewerben um 25 oder 28 beziehungsweise um Anteile um die 30 Prozent. Das scheint die Regel zu werden, das Wahlgeschehen hat sich auf die Ebene unter 30 verlagert. Das hat Konsequenzen. Die Zeiten sind vorbei, zu denen man spöttisch sagte: Da brauchste nur nen roten Besenstiel aufzustellen, der wird gewählt. Oder einen schwarzen Besenstiel. Lokale Wahlauseinandersetzungen werden anspruchsvoller, teurer, differenzierter werden.
Aufschlussreich sind weitere Einzelaspekte: Wo prekäre Beschäftigungsverhältnisse zum prägenden Alltag zählen, hat die SPD oft gewonnen. So scheint es, als habe sich das Versprechen der SPD, um sozialen Ausgleichs zu kämpfen, in Zutrauen in sie umgesetzt. Und obgleich die Sozialdemokratie vom Sprachduktus her gesehen einen Jugend-Wahlkampf angelegt hatte, erhielt sie den größten Zuspruch von der Gruppe der über 65-Jährigen. Das müsste manchem zu denken geben. Zurück zum gestrigen Abend. Es ist ungewiss, welche Art von Spiel da aufgezogen worden ist. Gut vorstellen kann ich mir, dass die Grünen- Emissäre und die der FDP während der nächsten Tage zuerst mit der Union sprechen. Denn es ist einfacher, zuerst das Gespräch mit dem Wahlverlierer zu suchen, um dem ein Maximum an politischen Zugeständnissen abzutrotzen. Und dem auf diese Weise den Weg in die Opposition zu ersparen. In diesem Zusammenhang wird eine Rolle spielen, ob die Grünen zugesagt bekommen, dass sie den nächsten Bundespräsidenten stellen können, beziehungsweise die erste Frau als Bundespräsidentin. So ließe sich die grüne Basis dazu bringen, dem Deal mit FDP und Union zuzustimmen. Heinz Rühmann hätte dazu gesagt: Hübsch hässlich.
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