Denke ich an Deutschland, packen mich Beklemmung, Frust und zunehmender Widerwille.
Dabei war ich lange Zeit offen dankbar für mein Land – und ja: auch häufiger stolz darauf. Ich habe hier eine große Familie und mehrere Firmen gegründet, bin materiell wie emotional stark an Deutschland gebunden.
Doch was wir in den letzten Jahren erleben, hat immer weniger mit dem kulturell liberalen, wirtschaftlich resilienten und politisch meist trittsicheren Land zu tun, in dem ich aufgewachsen bin. Immer schneller kippt ein zukunftsvergessenes Deutschland in ein paternalistisches System, in der Gesellschaft erlebt die Faszination fürs Befehlen, Gehorchen und Strafen eine unselige Renaissance und die Innovationsimpulse kommen von woanders. Dies ist kaum noch der Ort, an dem man als Mensch mit Kindern, Plänen und Unternehmen leben möchte. Es ist ein System, das sehenden Auges in immer größere Konflikte und Probleme steuert.
Die Menetekel sind deutlich – ich sehe drei:
#1 Deutschland hat jede Lust auf ein Morgen verloren
#2 Der Staat maßt sich immer mehr an – und leistet immer weniger
Was mich immer am Stolzesten gemacht hat im Bezug auf mein Land: dass ausgerechnet auf dem Boden, von dem der dumpfeste Nationalismus und der konsequenteste Faschismus ausgingen, eine der liberalsten, offensten Demokratien der Welt gediehen ist.
Doch an eben dieser Pflanze nagen die Läuse. Seit circa acht Jahren erleben wir den Aufstieg eines autoritären Staatsverständnisses, das seine Kompetenzen stets ausweitet und immer stärker ins vormals Private eingreift. Es trifft auf eine zunehmend polarisierte Gesellschaft, in der die Freude am Befehlen und Gehorchen, der Wunsch nach radikalen Lösungen und der Drang, auszugrenzen auch weit abseits der radikalen Rechten üppig sprießen.
Absurder weise droht die eigentliche Gefahr dabei weniger von Radikalen am Rand als vielmehr von der unpolitischsten und mittigsten Bundesregierung, die das Land je hatte. In den letzten beiden Legislaturperioden hat die Große Koalition mehr rote Linien überschritten und mehr politische Anstands- und Hygieneregeln gebrochen als jede BRD-Regierung zuvor – doch mit einer derart drögen Unauffälligkeit, dass jeder Widerstand es schlichtweg verschlief.
So muss es jedem Demokraten aufstoßen, wie ausgerechnet die Regierung – eingeschworen auf das Grundgesetz – Verfassung, Europarecht und unabhängige Institutionen mit immer weniger Respekt behandelt, sobald diese dem „Durchregieren“ im Wege stehen. Mehr und mehr Gesetze werden gegen den offenen Widerstand von Richtern und Polizei aus reiner Symbolpolitik durchgesetzt, ihr späteres Scheitern nimmt man billigend in Kauf[1]. In einem Bruch mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung bezieht der Staat immer offener Position gegen unabhängige Gerichte (ja sogar das BVG), EU Institutionen oder wissenschaftliche Gremien von STIKO bis Ethikkommission[2]. Wurde noch vor nicht allzu langer Zeit über Verfassungspatriotismus gesprochen, scheint nun der Zweck die Mittel zu heiligen – und zur neuen Staatsraison gehört dabei das demokratisch extrem bedenkliche Narrativ, der Staat müsse die Bürger vor sich selbst schützen[3].
Mindestens ebenso verheerend ist die Rückkehr der Propaganda: Über die Nachkriegsjahrzehnte hinweg galt die Regel, dass die Regierung durch Öffentlichkeitsarbeit zwar aufklärt, aber nicht mit Steuergeldern einseitig für eigene politische Projekte wirbt[4] und die Vorgabe, dass der Staat keine Medien redaktionell betreiben darf[5]. Doch hat die aktuelle Bundesregierung mehr als jede Vorgängerin in aggressive Werbekampagnen für eigene Projekte investiert – zum Teil schon bevor diese überhaupt im Parlament zur Abstimmung gestellt wurden[6]. Dabei setzt sie nicht nur auf Werbung an öffentlichen Orten wie Bahnhöfen, Haltestellen oder Suchmaschinen, sondern schaltet auch in hohem Maße Anzeigen und Sonderformate in journalistischen Medien[7], womit sie wie jeder große Werbekunde deren Unabhängigkeit und Neutralität einschränkt[8]. In einer parlamentarischen Demokratie grenzt es an Perversion, dass die Regierung inzwischen einer der größten Werbetreibenden ist[9]. Zugleich explodierte die Zahl von regierungseigenen Kanälen in Form von Online-Magazinen, Blogs, Social Media Profilen und Werbeseiten[10] – es waren Gerichte und nicht die eigene Verfassungstreue, die die Bestrebungen des Gesundheitsministeriums stoppten, eigene Inhalte bei Google prioritär ausspielen zu lassen[11]. Kurz darauf wurde bekannt, wie das Innenministerium Wissenschaftler für möglichst alarmistische Gefälligkeitsgutachten incentivierte, um Stimmung für einen Lockdown zu machen[12]. Man blicke ins Wörterbuch und irre sich nicht: das ist nicht mehr Öffentlichkeitsarbeit, das erfüllt die klassische Definition von Propaganda[13].
Zugleich sind sämtliche Schamgrenzen gefallen. Traten noch unter Rot-Grün und Schwarz-Gelb Minister wegen vergleichsweise niedlicher Regelverstöße zurück, behandelt die aktuelle Regierung das Land wie ihren höchsteigenen Selbstbedienungsladen. Selbst offenkundige Anzeichen von Korruption, sehenden Auges herbeigeführte Milliardenschäden am Steuerzahler und öffentliches Scheitern von epischem Ausmaß bleiben ohne ernstzunehmende Konsequenz – teils wird mit der eigenen Dreistigkeit gar noch kokettiert[14]. Dazu passt, wie beide Parteien den Staatsapparat kaum verholen für den Wahlkampf einspannen[15] und im öffentlichen Ton die Selbstermächtigung überwiegt: Regierungshandeln wird begründet mit persönlichen Eindrücken oder gar nicht (immer häufiger heißt es bei Bundespressekonferenzen „kein Kommentar“[16], der Ton gegenüber Kritikern wird immer rauer. Darin, sich selbst offen zu widersprechen und seine Ankündigung vom Juni (z.B. „Sobald Alle ein Impfangebot haben, fallen sämtliche Beschränkungen“[17]) bereits im August unter den Tisch fallen zu lassen, sieht ohnehin niemand mehr ein Problem.
Hier springt es wesentlich zu kurz, mit dem Finger nur auf die Regierung zu zeigen. Denn auch der Blick in die Opposition oder die Bundesländer bietet wenig Grund zur Hoffnung. Bei der AfD nach Kämpfern für Verfassungstreue zu suchen, ist ohnehin ein absurdes Unterfangen. Doch auch die Grünen haben sich nicht erst unter Corona von ihren Bürgerrechts- und staatskritischen Wurzeln verabschiedet zugunsten einer Mischung aus konservativem Paternalismus und linker Regulierungs- und Ausgabenfreude. Neben einer Linkspartei, die lange Zeit nicht ohne Grund vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, leistete lediglich die FDP zuletzt konsequente und konstruktive Oppositionspolitik – eine Partei, die im besten Fall auf untere 10%-Werte kommt. Es ist kein Zufall, dass sich bis auf letztere die Plakate der Parteien bis zum Verwechseln gleichen, sieht man von den Farben ab (und davon, dass die AfD den Ton der der CDU vor 20 Jahren imitiert).
Und so wachsen unter wechselnden Regierungen Umfang und Selbstherrlichkeit des Staates – nicht aber seine Leistung. Seit der Wiedervereinigung ist die Staatsquote in Deutschand von 2% über dem Median der OECD-Staaten auf sagenhafte 8% darüber angestiegen – und das war 2019, vor dem endgültigen Einstieg in die Staatswirtschaft unter Corona[18]. In derselben Zeit ist die staatliche Investitionsquote erst abgesunken, um in den letzten 20 Jahren zu stagnieren[19]. Die Investitionslücke wächst, die Finanzlage der Sozialsysteme wird dramatischer, bei Infrastruktur – von Straße und Schiene bis 5G und Glasfaser – hat Deutschland ebenso den Anschluss an den Club führender Industrienationen verloren wie bei seinen Schulen. Bei Steuern und Abgaben ist das Land hingegen laut OECD Weltmeister… im negativen Sinn[20]. Sprich: Der Staat bläht sich immer mehr auf (der Bundestag ist nur ein Symptom davon), Bürger und Unternehmen haben aber immer weniger davon. Die Bürokraten bedienen sich selbst und halten Hof.
Wir erleben eine Entwicklung, die Davidson und Rees-Mogg bereits Ende der 1990er sehr luzide vorausgesehen haben[21]: der klassische Nationalstaat ist immer weniger in der Lage, seine Rolle befriedigend auszufüllen und sieht die Basis seiner Macht erodieren. Er wird daher nach innen immer expansiver und aggressiver werden – bis zur schmerzhaften Implosion.
Blickt man auf den aktuellen Diskurs, wird es so auch weitergehen… bis es gewaltig kracht. Wie prekär man in Berlin die Lage einschätzt ist auch daran abzulesen, dass Deutschland still und leise diesen Sommer auswanderungswilligen Bürgern Strafzahlungen auferlegt hat, die offen und wissentlich gegen EU-Recht verstoßen[22], um den beginnenden Exodus mit fiskalischer Gewalt zu bremsen.
- [1]Die Liste ist lang genug für einen Quellenapparat in Artikellänge. Von PKW-Maut bis „Nein heißt nein“, von Wegzugsteuer bis Umwelt- und Klimaschutz, von Strafzinsen bis Beherbergungsverboten und, und, und… eine teilweise Revue: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus232625771/Merkel-und-das-Verfassungsgericht-Eine-Serie-empfindlicher-Niederlagen.html
- [2]Kleine Ausschnitte aus einer bestürzend langen Liste: https://www.welt.de/politik/deutschland/article207683597/Gekippte-Corona-Massnahmen-Bundesregierung-kritisiert-Gerichte-fuer-Urteile.html, https://www.welt.de/politik/deutschland/article232411305/Norbert-Lammert-kritisiert-Klimabeschluss-des-Bundesverfassungsgerichts.html, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/streit-ueber-geldpolitik-karlsruher-urteil-zu-ezb-anleihekaeufen-bundesregierung-haelt-eu-vorwuerfe-fuer-unbegruendet/27498622.html?ticket=ST-4087875-kkIapclz4uyYlP4aNzRs-ap6>https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/weiter-druck-auf-stiko-wegen-corona-impfung-von-kindern,ScTtWyH>https://www.n-tv.de/politik/Wenn-wir-auf-STIKO-warten-haben-wir-die-ersten-Toten-article22791550.html, https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2016/05/10/konnen-ethikkommissionen-zukunftig-uberstimmt-werden
- [3]Eine Argumentation, die in aller Offenheit die Debatte bei Corona-Impfungen ebenso bestimmt wie bei der Ernährung, den Sozialen Medien, privater Vertragsgestaltung, Hand- und Heimwerkerei bis hin zur Sterbehilfe.
- [4]https://www.bundestag.de/resource/blob/407370/e01799153bff14141a9891c450b04575/WD-3-453-07-pdf-data.pdf, siehe auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1977 https://openjur.de/u/185031.html
- [5]Ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht klar vorgegeben in mehreren Urteilen seit 1961, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/1._Rundfunk-Urteil
- [6]https://www.schwarzbuch.de/aufgedeckt/steuergeldverschwendung-alle-faelle/details/information-oder-nur-werbung-in-eigener-sache
- [7]Siehe z.B. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/grosse-koalition-oeffentlichkeitsarbeit-werbung-ministerien, https://www.rnd.de/politik/so-viel-gibt-die-bundesregierung-fur-pr-aus-P3DO6LBE2FGABELCZSZQAGXP5I.html, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/werbung-in-eigener-sache-grosse-koalition-steigert-pr-ausgaben-deutlich-a-07a3ea8f-2ab5-475d-ac04-5102b286a612, https://www.focus.de/politik/deutschland/anzeigen-plakate-broschueren-ausgaben-der-regierung-fuer-oeffentlichkeitsarbeit-stark-gestiegen_id_9127088.html
- [8]dies stützt sich auf zahlreiche Untersuchungen, u.A. https://www.fachjournalist.de/PDF-Dateien/2019/10/Andresen_Einfluss-von-Anzeigenkunden.pdf, https://www.researchgate.net/publication/259758152_Einfluss_von_Werbekunden_auf_redaktionelle_Inhalte_Quasi-experimentelle_Modellierung_und_empirische_Erhebung
- [9]https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/regierung-gibt-viel-mehr-fuer-werbung-aus-17058924.html
- [10]https://rp-online.de/politik/deutschland/staatsfunk-was-darf-die-regierung-im-netz-rundfunkgesetze-sind-nicht-zeitgemaess_aid-29480113, https://www.vice.com/de/article/4358d3/so-viel-gibt-die-regierung-fuer-werbung-auf-facebook-instagram-und-youtube-aus-sponsored-posts
- [11]https://www.deutschlandfunk.de/urteil-zu-google-kooperation-mit-gesundheitsministerium.2907.de.html?dram:article_id=492314
- [12]https://www.fr.de/wissen/schwerer-vorwurf-an-horst-seehofer-csu-politische-vereinnahmung-von-forscherinnen-in-geheimdokument-90197291.html
- [13]https://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/krieg-in-den-medien/130697/was-ist-propaganda
- [14]Man denke z.B. an Andreas „Autobahn“ Scheuer, Olaf „Cum-Ex & Wirecard“ Scholz, Jens „Millionenvillen und Insiderdeals“ Spahn, Heiko „Taliban“ Maas – und Angela Merkels Interventionen für Betrüger wie Wirecard und Augustus Intelligence.
- [15]https://www.rnd.de/politik/olaf-scholz-hat-er-das-finanzministerium-fuer-den-spd-wahlkampf-eingesetzt-GEBVDCAQZVG2LDK7V53JC2WAYA.html, https://www >https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/welt/oeffentliche-haushalte/einnahmen-und-ausgaben-des-staates/staatsquote
- [16]https://plus.tagesspiegel.de/gesellschaft/wie-steffen-seibert-angela-merkels-macht-absicherte-175854.html
- [17]https://www.rtl.de/cms/maas-macht-hoffnung-fallen-corona-einschraenkungen-bis-ende-august-weg-4790926.html
- [18]https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/welt/oeffentliche-haushalte/einnahmen-und-ausgaben-des-staates/staatsquote
- [19]https://service.destatis.de/DE/vgr_dashboard/investitionen.html
- [20]https://www.businessinsider.de/wirtschaft/finanzen/oecd-studie-zur-steuerlast-deutschland-ist-hochsteuerland-vor-allem-fuer-singles
- [21]https://www.amazon.de/Sovereign-Individual-Mastering-Transition-Information/dp/0684832720
- [22]https://blog.handelsblatt.com/steuerboard/2021/06/14/reform-der-wegzugsbesteuerung-kommt-jetzt-die-grosse-flucht-aus-deutschland/, https://www.wiwo.de/politik/deutschland/scharfe-kritik-aus-wirtschaft-und-politik-ist-scholz-unternehmensteuer-reform-ein-fauler-kompromiss/27037858.html
Teil 1: Deutschland hat jede Lust auf ein Morgen verloren
Teil 2: Der Staat maßt sich immer mehr an – und leistet immer weniger
Teil 3: Misstrauen wird zur Grundstimmung, Aggression salonfähig
Hinweis: Dieser Beitrag wird auch im Onlinemagazin des Heise-Verlags, Telepolis, erscheinen!
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Tja, so ist das, wenn man stolz ist auf etwas, was man selber nicht erbracht hat. Stolz kann man, meiner Mienung nach, nur auf selbst Erbrachtes sein. Nur darüber hat man auch die Kontrolle.
Welcher Grund soll denn der gewesen sein eine Partei wie die Linke vom VS, der dafür bekannt ist, auf dem rechten Auge blind zu sein, überwacht zu werden? Oder ist das doch nur das Ergebnis einer „aggressiven Werbekampagne“? Und ist der VS überhaupt als Instrument noch zu gebrauchen? Diese Frage sollte doch in einer Demokratie gestellt werden, nach den bekannt gewordenen Skandalen.