Ein großer Selbstbetrug zieht sich nach 20 Jahren „Krieg gegen Terror“ durch die Erzählungen, mit denen der Westen nach dem katastrophalen Scheitern in Afghanistan verbal zu retten versucht, was nicht zu retten ist. Von Washington bis Berlin wird von der Politik die Botschaft gestreut, wenigstens ein wichtiges Ziel sei erreicht: Das Land am Hindukusch sei nicht mehr die Basis für weltweit operierende Terroristen von AL Qaida, deren Anführer Osama Bin Laden 2011 von der US-Armee getötet wurde.
Die Reaktion der islamistischen Terroristen spricht eine andere Sprache. AL Qaida gratulierte den Taliban überschwänglich, die Besatzer vertrieben zu haben. Der IS wiederum beanspruchte mit seinem Anschlag auf den Flughafen von Kabul, bei dem viele Zivilisten und 13 US-Soldaten ums Leben kamen, den „großen Satan“ USA und seine Verbündeten in die Schranken gewiesen zu haben. Und während sich US-Präsident Joe Biden mit dem vermeintlichen Sieg über den Terrorismus in die Tasche lügt, ist die Analyse von US-Generalstabschef Mark Milley skeptisch: Er befürchtet, dass der Sieg der Taliban Afghanistan in einen erneuten Bürgerkrieg stürzt und das Land wieder als Operationsbasis für islamistische Terroristen aufblühen könnte. Und für den deutschen Terrorismusexperten Guido Steinberg von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ ist klar, dass sich in der Region immer mehr eigenständige Terror-Ableger etabliert haben.
20 Jahre nach 9/11, den verheerenden Terroranschlägen ins Herz der USA, und wenig später 10/9, dem Beginn der Bombardierung der AL Qaida-Stützpunkte in Afghanistan, ist von den Ansprüchen des Westens nur ein Scherbenhaufen geblieben. Die „uneingeschränkte Solidarität“, mit der sich Deutschland und die anderen Nato-Staaten damals an die Seite der USA warfen, Hilfe und Unterstützung beim Kampf gegen den Al Qaida-Terrorismus versprachen, war 2001 berechtigt. Zumal die Angst groß war, auch Europa könnte Angriffsziel von Osama bin Laden und seinen Kriegern werden. Wie berechtigt diese Befürchtung war, bestätigten 2004 Bombenanschläge auf die U-Bahn von Madrid mit mehr als 190 Toten und Tausenden Verletzten. Oder ein Jahr später die Selbstmordattentate auf das U-Bahnnetz Londons mit 57 Todesopfern. Auch Deutschland war im Visier. So wurden am 31. Juli 2006 Kofferbomben, zum Glück mit Konstruktionsfehlern, in mehreren Zügen in NRW entdeckt.
Die „uneingeschränkte Solidarität“ im Kampf gegen den von Afghanistan ausgehenden Terror war nicht uneigennützig. Pointiert brachte Verteidigungsminister Peter Struck 2003 die Beteiligung der Bundeswehr an dem Einsatz in Kabul mit dem bis heute zitierten Satz auf den Punkt: „Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt“.
Für die USA und ihren Präsidenten George W. Bush allerdings war der Kampf gegen den Terror nur noch Vorwand für ein übergeordnetes Ziel. Afghanistan sollte ein demokratischer Staat nach amerikanischem Vorbild werden. Und nicht nur Afghanistan. Mit dem Krieg gegen Irak und dem Sturz Sadam Husseins sollte auch dort Demokratie einkehren und der Einfluss der USA in der gesamten Region des mittleren Ostens gestärkt werden. Der desaströse Ausgang ist bekannt. Der Krieg stürzte die Region ins Chaos und führte dazu, dass mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) neben Al Qaida eine weitere für den Westen bedrohliche Terrororganisation Nährboden fand.
Es ist eines der größten Verdienste von Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass er sich dem Drängen der amerikanischen, aber auch britischen Administration unter Premierminister Tony Blair einer Beteiligung an diesem Kriegs-„Abenteuer“ verweigerte. Die Verweigerung im Irak hatte am Hindukusch aber ihren Preis. Schröder kam nicht umhin, den USA ein stärkeres Engagement der Bundeswehr beim Wiederaufbau in Afghanistan zuzusagen: Deutsche Soldaten waren ab 2004 nicht mehr nur in Kabul stationiert, sondern für die Stabilisierung der Nordprovinz um Kundus verantwortlich.
„Kurort Kundus“ lästerten die Nato-Partner über die ruhige Region, die der Bundeswehr zu Beginn tatsächlich nicht viel abverlangte. Brunnen graben, Schulen bauen, Infrastruktur schaffen. Es ließ sich gut leben – auch innenpolitisch – mit der fatalen Fehleinschätzung, als Technisches Hilfswerk (THW) über die Runden kommen zu können. Frühe Mahnungen Strucks, dass notfalls getötet werden müsse und umgekehrt auch der Tod von deutschen Soldaten nicht auszuschließen sei, wurden in dieser Phase überhört.
Wie berechtigt die Mahnung war, zeigte sich erstmals Pfingsten 2003, als ein Bus von Bundeswehrsoldaten auf dem Weg zum Flughafen Kabul von einem Selbstmordattentäter angegriffen, vier Soldaten getötet und mehr als zehn schwer verletzt wurden. Ein Schock, aber immer noch die Zuversicht, dass der Anschlag nicht explizit den Deutschen, sondern anderen Nato-Soldaten gegolten habe, die ebenfalls auf dem Weg zum Kabul-Airport waren.
Kritisch wurde es für die Deutschen in den lange friedlichen Nordprovinzen, als die Taliban der zermürbenden Kämpfe mit Briten und Amerikanern im Süden des Landes leid waren, ihre Taktik änderten und die Aktivitäten auf den Norden des Landes verlegten. Die Bundeswehr befand sich mehr und mehr in einem Kampfgebiet.
Zur militärischen Überforderung kam nicht nur für die deutschen Streitkräfte, sondern für die Nato-Truppen insgesamt zunehmend der Verlust der medialen Deutungshoheit. Die Taliban zermürbten die Akzeptanz der Bevölkerung in Europa und den USA für den immer kriegerischer werdenden Einsatz, weil sie Angriffe konsequent als Vergehen gegen die Zivilbevölkerung darstellten. Dass sie es waren, die Zivilisten als Geisel und deren Tod bewusst in Kauf nahmen, drang im vom Krieg ohnehin genervten Westen bald nicht mehr durch.
Ironie der Geschichte, dass der ursprüngliche Grund für den Vergeltungsschlag gegen das Terrornetzwerk von Osama bin Laden gar nicht mehr in Afghanistan hätte geführt werden müssen: Der hatte sich längst nach Pakistan abgesetzt. Dort wurde Bin Laden 2011 von US-Marines aufgestöbert und getötet.
Spätestens dann hätte die Nato den Bündnisfall aufkündigen müssen. Stattdessen stolperte sie den USA hinterher (Zitat Norbert Röttgen), die selbst nicht mehr an einen Sieg über die Taliban glaubten, sie aber weiter schwächen und für Verhandlungen gefügig machen wollten. Eine Fehleinschätzung. Den Ton gaben und geben die Taliban an.
Der Schock von 9/11, der die Verletzlichkeit der einstigen Weltmacht USA und des gesamten Westens vor Augen führte, ist nach zwanzig Jahren zu einer illusionsfreien Bestandsanalyse geworden. Demokratie lässt sich nicht mit Waffengewalt durchsetzen. Die angeblichen Werte des Westens sind nur dann überzeugend, wenn sie eben auch in diesem Westen gelebt – und nicht von Autokraten wie Donald Trump mit Füßen getreten werden. Und schließlich: Der Terror ist eine Hydra. Wer ihr den Kopf abschlägt, riskiert, dass wenigstens zwei oder drei neue Köpfe wachsen.
Gewonnen hat der Westen nichts, sondern an Selbstbewusstsein und Überlegenheit verloren.
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