Als ich Ye-One Rhie vor ein paar Tagen in einem Lokal in Aachen treffe, meldet „Forsa“ gerade die neuesten Umfrage-Ergebnisse für die Bundestagswahl: Erstmals seit Jahren liegt die SPD vor der Union mit 23 zu 22 Prozent, die Grünen rangieren auf Platz 3 mit 18 Prozent. Es ist klar, dass dies nur ein Stimmungsbild ist, eine Momentaufnahme und noch keine Stimmen bedeuten. Aber für jeden Sozialdemokraten, der monatelang Ergebnisse hören musste von rund 15 Prozent, ist natürlich eine solche Nachricht Musik in den Ohren. Endlich, es tut sich was, Olaf Scholz hat nicht nur Armin Laschet und Annalena Baerbock abgehängt, auch die lange zerknirschte SPD hat offensichtlich das Tal der Tränen verlassen und bewegt sich nach oben. Was für eine Wendung für eine Sozialdemokratin wie Ye-One Rhie, eine Öcherin, 1987 in der alten Kaiserstadt geboren, und die jetzt kandidiert für die SPD, um den Platz von Ulla Schmidt im Deutschen Bundestag einzunehmen. Anfangs hat man sie fast belächelt, anfangs waren die Aussichten ja auch überhaupt nicht gut. Ye-One Rhie strahlt fast. Aachen im Herzen, das hat die 33jährige Frau, sie ist eine richtige Lokalpatriotin, die aber Berlin im Sinn hat, die Frau mit Migrationshintergrund, wie das neudeutsch heißt. Ihre Eltern kommen aus Südkorea. Sie strahlt überhaupt Charme aus und viel Natürlichkeit.
Politik, das hat sie gelernt. Sie war Mitarbeiterin von Svenja Schulze und von Ulla Schmidt. Sie sitzt seit 2014 für die SPD im Rat der Stadt Aachen. Für ihr kommunalpolitisches Engagement wurde sie mit dem Helene-Weber-Preis ausgezeichnet. Helene Weber gehörte zu den vier Müttern(neben vielen Vätern) des Grundgesetzes. Wenn man ihr zuhört, redet sie gern von ihrem Glück, dass sie gehabt hat, das Abitur machen zu dürfen, studieren zu dürfen in Deutschland, Stipendien bekommen zu haben. Sie ist dankbar für die Freiheiten, die sie in Deutschland genießen kann. Dabei war es zunächst nicht einfach für ihre Familie. Der Vater hatte zwar in Aachen studiert, aber seine Aufenthaltsgenehmigung lief irgendwann aus, sie wurde verlängert, aber immer schwang die Sorge mit, eines Tages zurück nach Südkorea zu müssen. „Wir fühlten uns in Aachen wohl, Aachen war und ist unsere Heimat“, betont sie mehrfach. Aber ohne Einwanderungsgesetz hingen sie in der Luft. Und als sie abgeschoben werden sollten, half ihnen u.a. Ulla Schmidt, die Briefe schrieb, sich für sie einsetzte. So etwas vergisst man nicht, zumal wenn man von Vertretern anderer Parteien hört: „Gesetz ist Gesetz. Wir wünschen Ihnen ein schönes Leben in Südkorea.“ So ähnlich sei es abgelaufen. Bald trat Ye-One Rhie der SPD bei, wurde aktiv bei den Jusos.
Erst unter Altkanzler Gerhard Schröder hat sich wirklich etwas für Migranten verbessert. Das ist gerade mal zwanzig Jahre her. Auch Ye-One Rhie selbst verdankt Schröders Integrationspolitik, dass sie einen deutschen Pass hat, dass sie wählen darf und dass sie für den Deutschen Bundestag kandidiert: „Die rotgrüne Politik hat dazu geführt, dass ich mich nicht nur deutsch fühle, sondern auch auf dem Papier deutsch bin.“
„Ich will verändern, verbessern“, sagt sie. Jeder Mensch soll solche Chancen bekommen, wie sie sie erhalten hat. Das Leben dürfe nicht von Glück und Zufällen abhängig sein, nicht von der Herkunft, vom Elternhaus, vom Geschlecht, vom Geld. Alle Menschen sollen das Beste aus ihrem Leben machen dürfen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen. Ohne Hürden und Barrieren. Sie möchte, dass der Satz „Das ist unfair“ aus unserem Sprachgebrauch verschwindet. Weil sie zu oft gehört hat, dass Menschen sich sorgen um ihre Rente, um eine bezahlbare Wohnung, einen sicheren Arbeitsplatz, ordentliche Bezahlung. Sie will faire Arbeitsbedingungen für Erzieherinnen und Erzieher, für Pflegerinnen und Pfleger, für Kassierer und Busfahrer, Sanitäter, eben alle sogenannten relevanten Berufe, die während der Corona-Krise den Laden am Laufen gehalten hatten. Sie will, dass die Klagen „es ist unfair, wie ich behandelt werde“ aufhören können.
Sie verehrt Willy Brandt und Otto Wels
Soziale Gerechtigkeit ist für Ye-One Rhie ein großes Ziel, Solidarität ein Begriff, den sie verinnerlicht hat als Kern ihrer Partei wie Gleichheit und Freiheit. „Ich will, dass Aachen eine Stadt bleibt, die alle willkommen heißt und Heimat für viele ist,“ sagt sie. “ Ich bin stolz darauf, dass wir dagegenhalten gegen Hetzer und Spalter, dass wir zusammenstehen.“ Sie verehrt Willy Brandt, den ersten SPD-Kanzler nach dem Krieg, den Friedensnobelpreistrager, sie kennt seine Geschichte, seine Emigration, seine Flucht vor den Nazis, die Demütigungen, die der Sozialdemokrat ertragen musste, weil er ein uneheliches Kind war. Willy Brandt, der in Warschau auf die Knie fiel, um auf diese Weise Zeichen zu setzen und um Vergebung zu bitten für die Verbrechen der Nazis an den Juden, den Polen, den Russen, den Sozialdemokraten. Sie gerät fast ins Schwärmen, als sie von der Rede von Otto Wels erzählt, dem großen Sozialdemokraten, der am 23. März 1933 in der Berliner Krolloper das Nein der SPD zum Ermächtigungsgesetz Hitlers hielt und die berühmt gewordenen Worte sprach: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Sicher wird er bei seiner Rede nicht ohne Angst gewesen sein, Todesangst, viele seiner Parteifreunde waren schon verhaftet. Die Folge dieses Gesetzes, dem die SPD als einzige Partei die Zustimmung verweigerte, war die Diktatur der Nazis, der Verlust demokratischer Rechte, die Verfolgung der Nazi-Gegner, die Ermordung der Juden. Otto Wels floh über Prag nach Paris, wo er im September 1939 im Alter von 66 Jahren starb, zwei Wochen nach dem Einmarsch der Nazis in Polen, dem Beginn des 2.Weltkriegs.
Aufstieg durch Bildung, das war die SPD-Politik durch Willy Brandt, für Ye-One Rhie gilt dieses erfolgreiche Motto noch immer. Es ist ja auch aktuell. 71 Prozent der Kinder aus Akademiker-Familien studieren, bei Kindern aus Arbeiterfamilien sind es nur 24 Prozent. „Dieser Unterschied lässt sich weder mit Talent noch mit verschiedenen Interessen begründen“, erklärt die Sozialdemokratin, die selber in Aachen Politik und Kommunikation studiert und ihren Master erworben hat.
Ye-One Rhie macht im Wahlkampf viele Hausbesuche. Sie erfährt dabei viel Zustimmung, die meisten Leute seien neugierig auf sie, wenn sie sich vorstelle: „Ich bin Ye-One Rhie, ich kandidiere als Sozialdemokratin für den Deutschen Bundestag“. Und wenn man sie gelegentlich etwas ungläubig anschaue, verweist sie auf ihren Migrationshintergrund, darauf, dass sie eine echte Öcherin ist, hier geboren. Und sie kann darauf verweisen, dass Ulla Schmidt, die langjährige Bundesgesundheitsministerin und Vizepräsidentin des Parlaments, die über 30 Jahre für die SPD im Bundestag saß, ihre Kandidatur unterstützt. Und das mit der Migration hat ja in diesen Tagen wieder an Bedeutung auch dadurch gewonnen, dass der Vorstands-Vorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Detlef Scheele, einen dramatischen Appell an die Bundesregierung gerichtet hatte. „Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus“, betonte Scheele. Durch die demografische Entwicklung nehme die Zahl der potentiellen Arbeitskräfte im typischen Berufsalter um fast 150.000 ab. Und dies werde in Zukunft dramatischer werden. „Wir brauchen 400.000 Zuwanderer pro Jahr. Von der Pflege über Klimatechniker bis zu Logistikern und Akademikerinnen: Es fehlen überall Facharbeiter“, so Scheele in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“. Scheele betonte zugleich, es mache keinen Sinn, zu sagen, wir möchten keine Ausländer. „Das funktioniert nicht.“
Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit gehören zu ihren wichtigen Wahlkampfthemen. Klimaschutz müsse sozial verträglich sein, fordert sie. „Es kann nicht sein, dass der, der jetzt schon wenig hat, durch Klimaschutz-Regeln noch mehr belastet wird. Die breiten Schultern müssen stärker belastet werden“, argumentiert sie. Sie plädiert dafür, das Reisen mit Zügen preiswerter zu machen, überhaupt müsste der Zugverkehr zuverlässiger werden, der innerdeutsche Flugverkehr dagegen sollte teurer werden. Die autofreie Innenstadt hält sie für nicht praktikabel, schließlich gibt es zum Beispiel Pflege- und Lieferdienste, die Zufahrt haben müssen. Besser wäre eine autoarme Innenstadt, heißt, so wenig Autos wie möglich in die Innenstädte zu lassen und stattdessen Busse und Bahnen zu benutzen und die Radwege auszubauen. Ein neues Gesicht für die SPD, das ist Ye-One Rhie, die Referentin für Wissenschaftskommunikation am DWI – Leibniz-Institut für Interaktive Materialien, die Frau, die Ulla Schmidt ablösen will. Ob sie es schafft? Da die Stimmung für die SPD sich gebessert hat, haben sich auch ihre Chancen erhöht.