Nach dem Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums stoßen jetzt auch Gesamtmetallchef Wolf und andere in das Horn:“ Wir müssen uns ehrlich machen. Es führt kein Weg an einer Rente mit 70 vorbei!“
Wir leben länger, dann müssen wir auch länger arbeiten. Klingt logisch, ist es aber nicht.
Die Lebenserwartung in diesem Land ist sehr ungleich verteilt. Das hat gerade eine Studie des DIW erneut belegt. Wer wenig verdient, lebt eben nicht so lange, wie jemand der gut verdient. Der Bayrische Rundfunk hat das vor ein paar Monaten sehr anschaulich dargestellt: Männer in München leben im Schnitt sechs Jahre länger als Männer in Bremerhaven. Das hat sicher eher mit dem Arbeitsmarkt und der jeweiligen Sozialstruktur zu tun, als mit der vermeintlich guten Luft im Alpenvorland.
Wer kürzer lebt, bezieht auch kürzer Rente. Wenn man das Renteneintrittsalter also pauschal anhebt, wird dieser Nachteil für viele noch größer. Denn wer früher in Rente geht, kann das nur mit deutlichen Abschlägen, ein Leben lang.
Deshalb darf es keine weitere Erhöhung auf 67 plus geben! Das ist nicht eine lediglich taktische Position, weil die Rente mit 67 der SPD immer noch negativ angekreidet wird.
Selbst Prof. Straubhaar, einer der führenden konservativen Ökonomen, hat vor kurzem in einem Artikel in „ Die Welt“ eingeräumt, dass seine jahrelang vertretene Forderung, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung zu knüpfen, „falsch, weil unfair“ sei. Denn dadurch würden Menschen mit niedrigem Einkommen massiv benachteiligt. Also müsse man einen Weg finden, diese Nachteile auszugleichen. Die Diskussion, wie das gehen könnte, hat im wissenschaftlichen Bereich begonnen, brauchbare Vorschläge gibt es bisher nicht.
In Österreich z.B. hat man vor Jahren eine Liste mit besonders belasteten Berufen wieder eingesammelt, weil sie nicht praktikabel und angreifbar war.
Jedes Jahr gehen in Deutschland 170.000 Frauen und Männer in die Erwerbsminderungsrente, weil sie gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind, einer Beschäftigung nachzugehen. Das ist gerade mal die Hälfte derjenigen, die einen Antrag stellen. Heißt, das Potential ist erheblich größer. Mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters würde auch der Druck auf sie steigen.
Nur mal zur Erinnerung, niemand ist daran gehindert auch bis 70 oder länger zu arbeiten, wenn sie oder er es will – und der Arbeitgeber mitspielt. Allenfalls im Arbeitsvertrag gibt es gelegentlich Klauseln, die ein Ausscheiden zur Regelaltersgrenze vorsehen. Sozialrechtlich gibt es keinerlei Beschränkungen. Das heißt, wer will, der kann. Es muss aber freiwillig bleiben.
Ach ja, der Rente droht ohne „arbeiten bis 70“ der Kollaps. Diese Horrorgemälde hören wir schon seit Jahren. Das sei alles nicht mehr zu finanzieren, weil die Zahl der Rentnerinnen und Rentner steige, gleichzeitig die Zahl der Erwerbstätigen abnehme. Nun ist das mit Prognosen so eine Sache, weil sie sich eben auf die Zukunft beziehen…
Die Prognosen, was die Beschäftigungsentwicklung angeht, waren Anfang der 2000er deutlich zu pessimistisch, wie die tatsächliche Entwicklung deutlich macht. Zur Finanzierung: Die Ausgaben für die Rente haben sich in den vergangenen 30 Jahren verdoppelt, ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist gleichgeblieben. Es ist eine politische Entscheidung, wie der erwirtschaftete Wohlstand verteilt wird, kein Naturgesetz.
Über den Stellenwert guter Arbeit hat Norbert Römer vor kurzem hier sehr zutreffende Anmerkungen gemacht. Der Arbeitsmarkt ist und bleibt die zentrale Stellschraube erst recht für eine ordentliche Altersversorgung. Deshalb wäre es glaubwürdiger, wenn mit der gleichen Verve, mit der eine Rente mit 70 proklamiert wird, die Erhöhung des Mindestlohns und eine deutlich stärkere Tarifbindung gefordert würden. Beides hätte unmittelbare Auswirkungen auf die individuelle Rente und auf die Rentenkasse insgesamt. So bleibt der wiederholte Vorstoß pure Ideologie.
Wer Fachkräftemangel beklagt, muss ausbilden. Wer Fachkräftemangel beklagt, muss etwas dafür tun, dass Frauen und Männer länger gesund arbeiten können. Wir sollten alles daransetzen, dass möglichst viele das jetzt schon steigende Rentenalter überhaupt erreichen, anstatt über eine weitere Erhöhung zu schwadronieren.
Ja, mit den Babyboomern, die bald altersbedingt aus den Jobs ausscheiden, steht die gesetzliche Rentenversicherung vor finanziellen Herausforderungen, keine Frage. Diese Herausforderungen sind aber durch eine bessere Erwerbsbeteiligung z.B. von Frauen, Älteren und Menschen mit Migrationshintergrund ebenso aufzufangen, wie die Einführung einer Erwerbstätigenversicherung, in die alle einzahlen: Selbstständige, Beamte und Abgeordnete. Mit einer Erwerbstätigenversicherung würden nicht alle Probleme gelöst. Sie stünde aber nicht zuletzt für gesellschaftliche Solidarität. Dafür steht im Übrigen auch der Zuschuss des Bundes an die Rentenversicherung. Das ist viel Geld, zugegeben, aber es ist eine gute Investition in den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Zum Gastautor: Ralf Kapschack hat nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften viele Jahre beim WDR gearbeitet, anschließend in der SPD-Landtagsfraktion. Er ist seit 2013 Mitglied des Bundestages und rentenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
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