Der Gedanke mag verrückt klingen: Wir müssen mit den Taliban reden. Mit wem sonst? Wenn wir etwas erreichen wollen in Afghanistan, gibt es keinen anderen Weg. Die Taliban haben das Sagen am Hindukusch und nicht wir. Wenn wir etwas für die Menschen tun wollen, die sich bedroht fühlen, sind die Taliban der erste Ansprechpartner einer deutschen Regierung oder für Politiker aus Brüssel. Es hilft jetzt gar nichts, die alten Methoden anwenden zu wollen und nach Sanktionen zu rufen. Wem wäre damit gedient? Wir wollen doch den Menschen, den Flüchtlingen, denen, die für die Bundeswehr und die Hilfsorganisationen in all den Jahren gearbeitet haben, helfen. Weil sie die Rache der Taliban fürchten. Damit sie das Land verlassen oder da bleiben können. Das muss uns nicht gefallen, aber das ist der gangbare Weg. Übrigens hat der damalige SPD-Chef Kurt Beck in den ersten Jahren nach der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder dafür plädiert, mit den Taliban zu reden. Sie seien dort ein Machtfaktor, an denen man nicht vorbeikomme. Und im Grunde hatte Beck auch darauf hingewiesen, dass man sich und das Land für die Zeit nach dem Abzug der westlichen Truppen vorbereiten müsse. Dass Kurt Beck für seine mutigen Äußerungen Hohngelächter erntete, sei hinzugefügt. Willy Brandt hätte ihm Beifall gezollt.
Ähnlich verstehe ich jetzt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Er hat gerade gesagt, man müsse mit den Taliban reden. Damit befindet er sich in bester Gesellschaft. Willy Brandt hat stets betont, es sei besser, miteinander zu reden, als aufeinander zu schießen. Und: Solange geredet werde, werde nicht geschossen. Seine Ostpolitik, die auf Aussöhnung der Völker aus war, hatte am Anfang viele Gegner. Was musste sich der SPD-Kanzler und Friedensnobelpreisträger nicht alles anhören?! Mit den Kommunisten reden, empfanden viele Konservative als unerhört. Die waren doch als die eigentlichen Freinde ausgemacht, zudem konnte man dahinter sehr schön seine eigene braune Vergangenheit verstecken. Brandt ließ sich trotzdem nicht davon abbringen und hatte Recht. 1990, längst nicht mehr im Amt, nahm Willy Brandt die Reise-Strapaze auf sich und ist nach dem irakischen Überfall auf Kuwait zu Saddam Hussein geflogen, um sich für die vom irakischen Diktator festgehaltenen Geiseln(darunter auch Deutsche )-sie dienten ihm als menschliche Schutzschilde- einzusetzen. An Bord seiner Maschine waren auch Medikamente und Kindernahrung, Hilfsgüter, die nicht unter das von der UNO gegen den Irak verhängte Handelsembargo fielen. Mit seiner Idee, analog zur „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ eine vergleichbare Institution im Mittleren Osten zu schaffen, scheiterte Brandt an Saddam. Doch es gelang ihm, dem Diktator die Freilassung der Geiseln abzuringen. (Deutschlandfunk, 5.11. 2020, Kalenderblatt: Golfkrieg 1990. Willy Brandts Coup in Bagdad.)
Wir streiten heute darüber, wer der Haupt-Verantwortliche war, der die rechtzeitige Evakuierung Deutscher wie Afghanen aus Kabul und den anderen Städten versäumt hat, wer zu spät reagiert hat, um alle Hebel in Bewegung zu setzen. Es ist Wahlkampf. So wichtig diese Frage ist, zunächst sollten wir uns um die Menschen in Aghanistan kümmern und sie versuchen herauszuholen. Deshalb ist es auch richtig, was Außenminister Heiko Maas gestern gesagt hat, dass nämlich der deutsche Botschafter mit den Taliban reden werde. Und sollten die Taliban andere Gesprächspartner aus den Reihen der Bundesregierung wünschen, muss man sich das in Berlin genau überlegen. Was riskiert ein Minister, wenn er nach Kabul fliegt? Im schlimmsten Fall erreicht er nichts. Es könnte aber auch sein, dass die einstigen Gotteskrieger dazu gelernt haben und dieses auszuloten, wäre allein schon eine Reise wert. Und wenn durch einen solchen Flug ins ferne Asien Menschenleben gerettet werden könnten, wenn Frauen, die sich bedroht fühlen, ausreisen oder sogar ihre Arbeit fortsetzen dürften, es wäre viel erreicht.
Das heißt nicht, dass wir die neuen Machthaber sofort anerkennen müssten. Das hat Zeit.Wir sollten das Thema nicht in den Mittelpunkt des Wahlkampfes stellen. Die Amtszeit der Kanzlerin Angela Merkel endet in wenigen Wochen. Ihr etwas ans Bein zu binden, macht aus meiner Warte wenig Sinn. Wem ist damit geholfen? Wenn die Frage ansteht, Flüchtlinge aufzunehmen, werden wir dies diskutieren und ja, wir werden Afghanen aufnehmen in Deutschland. Wieviele, das ist offen. Dies muss zudem europäisch geklärt werden. Dass sich Österreich weigert, spricht gegen die Regierung in Wien. Armin Laschet hat seine erste Äußerung schon relativiert, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Der Satz könnte als Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik- Wir schaffen das- ausgelegt werden. Menschen in Not muss geholfen werden. Kein Demokrat im Lande würde dem widersprechen. CSU-Chef Markus Söder mag über den Verlauf des Wahlkampfes erzürnt, ja wütend sein. Er sollte sich Attacken gut überlegen. Sein „Parteifreund“ Horst Seehofer wollte noch vor kurzem Afghanen nach Kabul abschieben, was in letzter Minute verhindert wurde. Eine solche Politik mag am Stammtisch punkten, menschlich ist sie nicht. Und dass derselbe Bundesinnenminister am 4. Juli 2018, just an seinem 69. Geburtstag, 69 Afghanen ins Land am Hindukusch ausfliegen ließ und sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen konnte, sprach gegen Seehofer und das christliche Menschenbild, auf das die CSU doch sonst so stolz sein will.
In wenigen Wochen wird gewählt. Umfragen zufolge bahnt sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen an zwischen der Union und der SPD, die Grünen, die vor Monaten schon die Hand an der Klinke des Kanzleramtes hatten, sind anscheinend etwas zurückgefallen. Gleichwohl stehen sie, gemessen an der letzten Wahl(2017: 8,9 vh), vor einem für sie überragenden Wahlergebnis. Ob der nächste Kanzler Armin Laschet heißt- der Kanzlerkandidat der Union schwächelt seit Wochen- oder Olaf Scholz- der vor Wochen noch wie der sichere Verlierer aussah- scheint heute völlig offen. Umfragen geben Stimmungen wieder, sie sind noch keine Stimmen. Völlig offen ist auch die Koalition, die Deutschland regieren wird. Jamaika, Ampel, Deutschland, Schwarz-Grün-Gelb, Schwarz-Rot-Gelb, Rot-Grün-Gelb, Rot-Rot-Grün, alles ist möglich. Klar ist nur: wir bekommen eine neue Kanzlerin, einen neuen Kanzler, Angela Merkel hört ja bekanntlich freiwillig nach 16 Jahren auf.
Wer auch immer regiert, das wird kein Zuckerschlecken: Die Herausforderungen sind gewaltig, der Klimaschutz erfordert Korrekturen der Politik, die heftig sein werden, teuer, einschneidend, spürbar für Bürgerinnen und Bürger. Die Pandemie läuft auf die vierte Welle zu, Corona ist noch nicht besiegt, wir werden impfen, impfen, impfen und weiter die Hygiene-Regeln einhalten müssen. Rund 30 Milliarden Euro hat die Bundesregierung für die Flutopfer bereitgestellt. Viele Menschen an der Ahr und der Erft haben kein Dach mehr über dem Kopf, die Infrastruktur in vielen Dörfern ist total kaputt. Afghanistan, das wir lange nicht auf dem Schirm hatten, bringt die Frage der Flüchtlinge, überhaupt der Migration und der Integration wieder ans Licht der Öffentlichkeit. Es ist also viel zu tun, jetzt und nach der Wahl.
Und um auf den Anfang meiner Geschichte zurückzukommen: Wenn Europa, wenn Deutschland nicht mit den Taliban redet, andere tun es schon. Die Chinesen.
Bildquelle: isafmedia, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Nicht mit den Taliban zu reden, war meiner Ansicht nach einer der großen Fehler der letzten 20 Jahre. Diese Flüchtlingskinder des Kriegs mit der UDSSR hatten keinerlei Perspektive als weiterhin gegen die USA zu kämpfen.
Man beklagt oft die führende Rolle von Nazis in der jungen Budesrepublik. Oder die Wendehälse der Wiedervereinigung. Den Mitläufern (nicht den führenden Köpfen) eines abgesetzten Regimes die Chance zum (konstruktiven) Mitwirken an der neuen Zeit zu geben, ist meiner Meinung nach einer der Schlüssel für eine Stabilisierung. Gibt es diese Möglichkeit nicht, haben die Betroffenen keine Chance als alles daran setzen, gegen die neue Ordnung zu kämpfen.