Die Bundestagswahl am 26. September wird ein viel tieferer Einschnitt werden als vielen bewusst ist. Es ist eine „Abschiedswahl“ in mehrfacher Hinsicht.
Abschied 1:
Mit dem Abschied von Angela Merkel als Bundeskanzlerin ist die Dominanz von Männern auf den höchsten Regierungsämtern endgültig vorbei. Sozusagen „testiert“ vorbei. Sie hat bewiesen, was geht. Sie hatte auf dem Weg zum testierten Ende eine erhebliche Zahl Mitstreiterinnen und nun steht bereits die nächste, wenngleich öffentlich zerrupfte Kandidatin bereit. Mitstreiterinnen waren beispielsweise: Brigitte Zypries, Annette Schavan, Ulla Schmidt, Ursula von der Leyenn, Andrea Nahles und Christine Lambrecht sowie Franziska Giffey, um einige zu nennen. Schmidt hatte in harten Auseinandersetzungen mit anderen zusammen während der neunziger Jahre die Frauen-Quote in der SPD durchgesetzt. Die scheidende Kanzlerin fordert verpflichtende Mindestquoten von Frauen in Führungspositionen: „Das hatte ich mir 1990, als ich in die Politik ging, alles einfacher vorgestellt, muss ich ganz ehrlich sagen.“ Deren jetzige Regierung ist die erste in der Geschichte der deutschen Republik, die gleichgewichtig mit Frauen und Männern ausgestattet ist.
Es ist also ein endgültiger Abschied von einer heute nur nahezu unverständlichen Tradition. Die ersten drei Regierungen Adenauers zwischen 1949 und 1961 wiesen keine einzige Ministerin auf. Die Kabinetts- Welt bestand aus dunklen Anzügen und Hosen, aus blank geputzten schwarzen Schuhen unter mal schlanken, mal bauchigen Herren. Erst im vierten Kabinett führte eine Frau ein Ministerium: Elisabeth Schwarzhaupt erhielt den Geschäftsbereich „Gesundheitswesen“. Das blieb lange die Domäne von Frauen in der Bundesregierung. Die erste Sozialdemokratin an der Spitze eines Ministeriums, Käte Strobel machte zwischen 1966 und 69 Gesundheit. Dann war es so, dass mal eine Frau das Gesundheitswesen führte, eine andere das Familienministerium. Finanzen, Inneres, Äußeres – bloß nicht, dachte die Herrenwelt. Erst in den siebziger Jahren konnte Katharina Focke (SPD) einen erweiterten Geschäftsbereich übernehmen: Gesundheitswesen und Familie zusammen. Zu Helmut Kohls Zeiten stieg die Zahl der Ministerinnen auf fünf. Unter Schröder arbeiteten sieben Ministerinnen. Es ging langsam voran.
Wer Fragen nach den damaligen Verhältnissen stellt, wird hören: Wir wurden ja gar nicht ernst genommen. Anzüglichkeiten waren an der Tagesordnung. Sexistische Anmache war ebenso selbstverständlich wie geflissentliches Übersehen. Besonders unangenehm waren spätabendliche und nächtliche Sitzungen etwa des Rechtsausschusses. Ab einer bestimmten Zeit packten die Herren ihre speziellen beruflich getränkten unappetitlichen Witze aus. Für anwesende Frauen eine echte Qual.
Die weiteren Ziele sind klar: Eine Frau als Bundespräsidentin, eine Frau an der Spitze des Finanzministeriums oder eine Frau als Nachfolgerin Seehofers.
Abschied 2
2021 ist auch Abschied vom Denken im Singular: Bis heute kandidierten Einzelpersonen, die an Parteien gebunden sind. Nun kandidiert erstmals eine sich selbst so bezeichnende Generation. Generation entspricht längst nicht mehr dem früher damit entsprechenden Lebensabschnitt von etwa 30 Jahren. Heute sollen Kinder und Jugendliche eine „verlorene Generation“ sein, die ein bis zwei Jahre auf den regelmäßigen Präsenzunterricht verzichten mussten. Es kandidiert nun eine „Generation T“, die sich Transformation auf drei Ebenen vorstellt und vorgenommen hat: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sollen sich verwandeln, bis die Klimaveränderungen gestoppt, abgebaut und eine Balance zwischen brauchen und regenerieren hergestellt ist. Alles soll auf den Prüfstand eines zulässigen oder nicht zulässigen Verbrauchs: Gütererzeugung, Kapitalakkumulation, Transport, Arbeitsbeziehungen, Strukturen des Zusammenlebens. Das ist ein gewaltiges Projekt. Es soll lediglich Halt machen vor den grundlegenden Bedingungen für Demokratie – vor Menschenrechten, Rechtsweg-Garantie und Gewaltenteilung.
Vor wenigen Tagen warb eine junge Frau um Aufmerksamkeit für sich: „Ich bin Julia“, schrieb sie, „ich bin 27 Jahre alt und kandidiere dieses Jahr für den Bundestag im Wahlkreis Freiburg.“ Neugierig geworden, las ich weiter: „Wir sind jung, wir sind viele und wir haben den Plan für die Zukunft. Denn zu dieser Bundestagswahl treten wir mit insgesamt 109 Kandidat*innen an, die unter 40 sind.“ Julia Söhne, so heißt die junge Frau, ist nach eigenen Angaben „wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Regierungslehre“ der Uni Freiburg. Sie gehört nach der Gegenwartsdeutung der Führung ihrer Partei, der SPD, zur „Generation T“. Es ist der Werbetext einer selbstbewussten jungen Frau, die „den Plan für die Zukunft“ hat, die sagt, sie wisse, was getan werden muss. In den Bundestag gewählt, könnte es Julia Söhne nach dem 26. September passieren, dass sie auf die bisherige Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt aus Aachen trifft, die ihr Büro im Jakob-Kaiser- Haus an der Berliner Dorotheenstraße freiräumt, während sie, die Freiburger Vertreterin, dort einziehen möchte, um am Plan für die Zukunft zu arbeiten.
Abschied 3
Sechs Abgeordnete gehören dem Bundestag 31 Jahre oder noch länger an. Angela Merkel, Ulla Schmidt, Wolfgang Schäuble, Volker Kauder, Hermann Otto Solms und Hans Joachim Fuchtel. Alle übrigen heutigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages wurden später gewählt, 1994 oder noch später. Fünf von sechs der Genannten kandidieren nicht mehr. Wolfgang Schäuble will bleiben. Schäuble wurde 1972 in den Deutschen Bundestag gewählt, er fiel mir, einem jungen Redakteur durch geschliffene Fragen im Paninternational Untersuchungsausschuss des Bundestages auf. Anderen Orts bezeichnet man die Zusammensetzung der fünf Ausscheidenden als „Deutschlandkoalition“. Für zwei der fünf habe ich gearbeitet, für Angela Merkel und Ulla Schmidt – in alphabetischer Reihenfolge. Für Frau Merkel nur recht kurze Zeit, für Frau Schmidt recht lange Zeit.
Über die scheidende Bundeskanzlerin wird in den Wochen bis zur Wahl am 26. September in Hülle und Fülle berichtet werden. Ich habe einen Aspekt beizutragen, der vielleicht übersehen wird, der aber für Traditionalisten wie mich eine große Rolle spielt. In einer Reihe europäischer Staaten haben sich die politische Rechte, Rechtsaußen hier und extremistische Linke da während des vergangenen Jahrzehnts die Hände zeitweise gereicht, um bürgerliches und sozialdemokratisch- bürgerliches, reformistisches Handeln zu stören oder zu beenden. Vor wenigen Tagen in Schweden war das so; zuvor beispielsweise in Griechenland, Italien und Frankreich, Russland. In Deutschland ist das nicht geschehen. Für mich ist Gegenwehr gegen solches Zivilisationswerk. Dafür bedanke ich mich bei Frau Merkel. Liberaler Konservatismus und die Sozialdemokratie waren hierbei tragend.
Es ist jedenfalls eine eigentümliche Situation. Denn entspräche der Anteil der altgedienten und altersmäßig über 65 Jahre alten Abgeordneten dem Anteil dieser Gruppe an der Gesamtbevölkerung, dann wäre das keine Handvoll, sondern es wären um die 120 von 709 Personen. Wer denkt da nicht an Altersdiskriminierung?
Abschied 4:
Im Bundestag „Länger-Dienende“ werden seltener und seltener werden. Wie viele Jahre werden Julia Söhne oder Kevin Kühnert und Jessica Rosenthal (amtierende Juso-Bundesvorsitzende) sowie deren jugendliche Pendants in anderen Parteien bis hin zu Frau Baerbock und Herrn Habeck „in der Politik“ bleiben?
Die Gründer- Jahrgänge der Republik blieben schier unendlich lange „in der Politik“. Hans-Jochen Vogel war 70 Jahre Mitglied der SPD, bevor er vergangenes Jahr starb. 1958 wurde er erstmals in einen Stadtrat gewählt. Sein Bruder Bernhard trat 1960 in die CDU ein. 1967 wurde er CDU-Bezirksvorsitzender. Einmal 62 Jahre durch Wahl begründete politische Arbeit, im zweiten Fall und bis heute 53 Jahre. Es gibt diese erfahrenen „Oldies“ beiderlei Geschlechts noch, es werden freilich immer weniger. Und der Umgang mit ihnen ist, wenn sie sterben, mitunter nicht erfreulich. Zur Totenfeier des früheren Juso- Bundesvorsitzenden, stellvertretenden Vorsitzenden der SPD- Bundestagsfraktion und späteren Vizepräsidenten der Europäischen Investitionsbank Wolfgang Roth erschien jüngst kein einziges amtierendes Mitglied der heutigen SPD-Fraktion. Erschienen waren der frühere Juso- Bundesvorsitzende Klaus-Uwe Benneter und die gegenwärtige Vorsitzende Jessica Rosenthal.
Die den Gründern folgende Aufsteiger –Generation kommt im Schnitt auf 30 bis 40 Jahre „in der Politik“, rechnet man zum Bundestag Landtage und kommunale Engagements hinzu. Die absolvierten großenteils eine „spezielle Schule“. Als Schmidt auf einem Listenplatz in den Bundestag gewählt wurde, führte Hans-Jochen Vogel die Fraktion der SPD. Die Fraktion war zu jener Zeit ein straff geführter Apparat, in welchen die Pflicht eingepflanzt war, kostenwirksame Oppositionsforderungen mit konkreten Deckungsvorschlägen zu versehen. Solche Oppositionsvorlagen gab es wieder und wieder. Gegenfinanziert, unverdrossen vorgelegt und eingebracht. Irgendwelche Klimbim und Show- Veranstaltungen gab es unter Vogels Regie nicht. Opposition war harte und penible Vorbereitung auf Regieren. Erst unter Vogels Nachfolger Hans Ulrich Klose änderte sich das, die Fraktion der SPD nahm so rätselhafte Worte wie den Begriff von der „wirklichen Wirklichkeit“ in Gebrauch.
Die Aufsteiger und –innen, die nun einstiegen waren gegen Ende des Krieges oder nach dem Krieg geboren, von Eltern auf die Schulen gebracht, die sagten: Unsere Kindern sollen es mal besser haben als wir. Manche machten Abitur in der ersten Bildungsrevolution oder auf dem zweiten Bildungsweg, andere machten ihren Aufstieg in und durch Gewerkschaften, um in eine Partei umzusteigen. Manche wiesen in ihren Biographien handfeste Berufe aus: Werkzeugmacher, Buchdrucker, Bergmann. Viele hatten noch echte Knappheit während des Kindseins erfahren, auch noch den, wenngleich nachlassenden „Zwang des Milieus“. Einige probierten aus, wie weit sie die Staatsgewalt kitzeln könnten. Man könnte das eine „revolutionäre Platzrunde fliegen“ nennen.
Abschied 5
Ein weiterer Abschied zeigt sich im Rückblick auf das Jahr 1998. Nun klappt endgültig der Deckel über den Schröderjahren zu. Mit Ulla Schmidt scheidet das letzte SPD- Mitglied aus dem Bundestag aus, das im ersten Schröder-Kabinett Ministerrang hatte. Es bleiben noch der Bundespräsident und von den Grünen Renate Künast und Jürgen Trittin „der Politik“ erhalten. Frank Walter Steinmeier wurde 1999, als er das Bundeskanzleramt von Bodo Hombach übernahm, kein Minister. Er schaut nun aus dem Schloss Bellevue von oben auf die Dinge hinab, in welchen die Aachener Bundestagsabgeordnete nach Darstellung der FAZ vom 21. Juno seit 1990 „mitmischt“.
So endet in partei- politischer Hinsicht der zweite „Aufschlag“ der SPD während der Bonn-Berliner Republik. Mit dem Versprechen mehr Demokratie zu wagen wird der erste Aufschlag 1969 verbunden. Mit den „Dioskuren“ Schröder und Fischer (der Fama nach „Rossebändiger und Faustkämpfer“) begann der zweite Aufschlag 1998. Er endete 2005 mit dem Bündnis zwischen dem Liberalkonservatismus der Merkel-Union und der SPD.
Exkurs:
Der Union gelang der Aufschlag bisher drei Mal: 1949, dann 1982 und schließlich 2005. Die Regierungsjahre ab 1949 waren gesetzte bürgerliche Zeiten mit braunen Flecken hier und da. Eng und warm für einen ideenarmen Konservatismus. Junge Erwachsene der Nachkriegszeit wurden als „skeptische Generation“ bezeichnet. Der schlossen sich die „Kinder von Marx & Coca Cola“ an, die gleichzeitig als „Baby-Boomer“ aufwuchsen. Wenige Jahre später traten die 68er ins Rampenlicht. Eine Generation waren sie nicht, sondern sie waren und verstanden sich als deutlich abgesetzte Minderheit.
Die Zeit ab 1969 war die der „gewandelten Proletarier“. Von einer Brandt- oder Wehner- Generation wurde freilich nicht gesprochen. 1982 übernahm die demokratiebewusste konservative Provinz die Führung. Etwas mühsam sprach man mit Blick auf die lange Kanzlerschaft Helmut Kohls von der „Generation Kohl“.
Dem nahm 1998 eine linksorientierte Aufsteiger- Gruppierung das Heft aus der Hand, bevor ab 2005 ein liberaler Konservatismus die Regierungsgeschäfte zu führen begann, angeführt von der ersten Frau als Kanzlerin an der Spitze einer deutschen Regierung; die aber die politische Macht mit einem Teil der linken Aufsteiger teilte.
Eine „Generation Golf“ blitzte mal kurz auf, die einer Generation Y („why“) Platz machte. Auch eine Generation „Z“ soll es geben. „Z“ erinnert mich freilich an den Film „Z“ nach einem Roman von Vassilis Vassilikos aus dem Jahr 1969: „Z“ ist Kürzel für „Zei“, neugriechisch: „Er lebt“. Der Film bezieht sich auf den politischen Mord an Grigoris Lambrakis.
Zur Generation T zählen die nun aus dem Deutschen Bundestag Ausscheidenden nicht. Marx lesen mittlerweile nur noch die wenigsten und Coca Cola hat gegen Latte Macchiato und trockenen Weißen keine Chance.
Schmidt war übrigens 41 Jahre alt, als sie im Dezember 1990 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde. Merkel, 36 Jahre alt, holte damals ihren Wahlkreis in Vorpommern mit 48,5 Prozent, Ulla Schmidt blieb mit 42,1 Prozent der Stimmen zunächst Mal zweite Siegerin hinter dem Aachener Abonnements- Abgeordneten der CDU, Hans Stercken. Gemessen an heutigen Werten ist das fast utopisch zu nennen.
Abschied 6
Es ist auch ein Abschied von „Ulla“, wie Schmidt kurz und bündig genannt wurde. Sie übernahm im Januar 2001 nach der unglücklich agierenden Andrea Fischer von den Grünen das Bundesministerium für Gesundheit. Es war gewiss nicht ihr Lieblings- Geschäftsbereich. Kaum war sie ernannt, meldeten sich die „Orakel“ auf den Chefetagen der Blätter: Die werde über kurz oder lang hinschmeißen. Das kann die doch gar nicht. Männer wurden damals in aller Regel mit solchen „Orakeleien“ verschont. Dabei übersahen die Skeptiker die Härte derer, die Hans-Jochen Vogels Schule absolviert hatten. Schmidt führte jahrelang die Querschnittsgruppe Gleichstellung ihrer Fraktion. Das war kein Zuckerlecken, denn die SPD war damals alles andere als einfach für aufstiegsbewusste und auf Gleichstellung mit den Männern pochende Frauen. Wer´s gerne gekalauert hat, sollte an Folgendes denken: Mit den Linken in der Union sei es wie beim Westfälischen Schinken, außen Schwarz und innen Rot, sagte man. In der SPD war´s, so wäre hinzuzufügen, umgekehrt.
Mir ist eine Begebenheit in Erinnerung geblieben, die meinen Atem stocken ließ. Der Wahlausgang 2002 war denkbar knapp ausgegangen. Bei solchen Gelegenheiten bricht mitunter der gegenseitige Respekt zusammen. Auf einer Sitzung kurz nach der Wahl im engen Gebäude des Gesundheitsministeriums an der Ecke der Glinkastraße zur Taubenstraße pöbelte ein Vertreter der versammelten Krankenkassen- Spitze Schmidt an: Sie säße ja lediglich deswegen noch auf ihrem Platz, weil die Kassen das so gewollt hätten. Es entstand einen Augenblick gedrücktes Schweigen, einige schauten entsetzt auf den Mann, der zu feixen begann, andere schienen angeekelt. Dann ging die Diskussion weiter.
Was Schmidt vor sich hatte, war eine Mischung aus Sisyphos- Arbeit und Laokoons Kampf mit den Schlangen. Sie hat diesen „mixed Struggle“ gewonnen.
Superschnelle und eng vernetzte Kommunikation steckte in den Kinderschuhen. Es herrschten die Büroboten mit ihren Aktenwägelchen und den verschiedenfarbigen Aktendeckeln. „Die Medien“ damals – ein Pool von 30, vielleicht 40 Berichterstattern, meist Männer, eingefleischte und kenntnisreiche „Sopos“, die der vormalige Arbeitsminister Blüm mehr oder weniger regelmäßig im Bierkeller des Duisdorfer Ministeriums zusammenrief. Kommunikationstechnisch gesehen war das bereits fast „die halbe Miete“. Einige Jahre später hatten die zentralen Apparate der Kassen, der Ärzteschaft und der Pharmaunternehmen und der Apotheker ihre Lektion gelernt. Sie hatten ihre Einflussmöglichkeiten ausgebaut, wurden echte, kontinuierlich arbeitende „Influenzer“. Ihre informellen Netze untereinander waren intakt, sie wurden bestens gepflegt. In den Zentralen saßen machtbewusste Typen. Dem von ihnen dirigierten Wechsel zwischen Konkurrenz und Kumpelei schien niemand gewachsen zu sein.
Wenige Jahre zuvor hatten Rudolf Dreßler und Horst Seehofer in Lahnstein wenigstens das „eherne Gesetz“ zerbrochen, wonach man mit Berufsbeginn quasi in die Krankenkasse hinein geboren würde. Von diesem Zeitpunkt an war das Wort Wettbewerb aus dem Kassenbereich nicht mehr zu verdrängen.
Ebenfalls wenige Jahre zuvor hatte die Regierung Kohl damit begonnen, die Finanzierung der Leistungen in Krankenhäusern umzustellen: Weg von der Kostendeckung, was immer die verlangte und hin zu Modellen mit sogenannten Fallpauschalen. Es hatte erste Gesetze gegeben, um die Ausgaben für ärztliche Leistungen zu begrenzen.
Die Aachenerin hielt sich jedenfalls wider alles Gerede. 2002 wurde sie Superministerin für Rente, Pflege, gesetzliche Krankenversicherung, Sozialhilfe und Unfallversicherung in ihrem Geschäftsbereich. Die Arbeitsmarktpolitik wanderte zu Wolfgang Clement ins Wirtschaftsministerium.
Die Neuen an den Spitzen der Bundesregierung befürchteten, dass die sozialen Sicherungssysteme unter dem Druck wachsender Arbeitslosigkeit, sinkender Reallöhne, demographischer Veränderungen und zugleich ständig weiter ausufernder Ausgaben einknicken würden. Es musste etwas passieren. Leistungen wurden begrenzt, Einnahmen verbessert und neue Strukturen eingeführt. In zwei umfangreichen Gesetzen wurde die gesetzliche Krankenversicherung bis ins Jahr 2009 hinein umgebaut. Nebenbei bemerkt: Davon lebt die Gesundheitspolitik bis heute.
Die erste der Schmidtschen Krankenkassen- Reformen wurde 2003 in der Baden-württembergischen Landesvertretung zwischen der Bundesregierung, der CDU/CSU, der FDP und der SPD verhandelt. Die Gesundheitsministerin auf der einen Seite mit der heutigen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer neben sich, auf der anderen Seite Horst Seehofer. Die FDP stieg aus, als es ernst wurde.
An einem der Verhandlungsabende stand Schmidt allein, ohne Berater im Garten der Landesvertretung, Grüppchen Diskutierender hielten sich in der weitläufigen Landesvertretung auf, einzelne gingen zum Ausgang in den Garten, schauten hinaus, kehrten um. Niemand näherte sich Ulla Schmidt, niemand sprach sie an. Sie ging einige Schritte, blieb stehen überlegte. Zuvor hatte die Runde über einschneidende, die Kassenmitglieder materiell belastende Änderungen des Leistungsrechts debattiert. Es war in diesem Augenblick so, als wolle niemand mit der Last in Berührung kommen, die die Gesundheitsministerin zu tragen hatte.
Monate später, im Januar 2004 stand in einer Sonntagszeitung: „Erster Toter wegen Gesundheitsreform.“ Wegen solcher Formen der Auseinandersetzung gerät manches in den Hintergrund. Nachdem Ulla Schmidt Ministerin geworden war, begann eine intensivere Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit der deutschen Ärzteschaft. Den damaligen Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Manfred Richter-Reichhelm hat sie hierbei kräftig unterstützt. Der Gemeinsame Bundesausschuss von Kassen, Apothekern und Ärzteschaft wurde modernisiert, man könnte auch schreiben „ans Laufen gebracht“ und um Patientenstimmen ergänzt. Es wurde ein bundesweit ausgerollter Pandemieplan erarbeitet, den spätere an der Spitze des Gesundheitsministeriums beiseitelegten. Sie hat das Kartell der sehr einflussreichen Kassenverbände aufgelöst und einen Spitzenverband durchgesetzt – der heutige Ansprechpartner für Legislative und Exekutive. Sie hat mit dem Gesundheitsfonds Beitragsmittel und Steuerzuschuss den Risiken zugeordnet, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung mit den Hausärztlichen Zusammenschlüssen und Vertragsrechten Konkurrenz verpasst.
Sie hat eine Menge Kritik und ätzende Bewertungen einstecken müssen. Manches war jenseits einer „roten Linie“. Während die zweite Gesundheitsreform debattiert wurde, war auf einem Schild zu lesen, das ein blonder, bärtiger, lächelnder Arzt anlässlich einer Demo in Berlin hochhielt: „Ulla und Karl nach Guantanamo.“ Nicht mal geraschelt hat es damals in den Blättern, die jeden Tag aufs Neue “ergrünen“. Warum erzähle ich diese Begebenheiten? Weil in ihnen Abschiede stecken: Abschied vom damaligen Politikverständnis mancher Akteure. Ulla Schmidt hatte kein Dogma, dafür aber einen Grundsatz: Kümmer´ dich um die, die sich selbst nicht helfen können. Sie wollte, dass Menschen ihr Leben zurückgewinnen und eigene Verantwortung behalten: Arbeitslosigkeit wegkriegen, damit Menschen wieder über sich bestimmen können. Strukturen, Machtverhältnisse ändern und auch abbauen, denn nichts ist fremdbestimmter als lange Arbeitslosigkeit; Entscheidungsfähigkeit hervorbringen, weil nichts diskriminierender ist, als Menschen mit Behinderung zurück zu lassen. Jeder und jede kann sich fragen, ab das noch das heute vorherrschende Verständnis sozialer Politik ist.
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Danke lieber Klaus Vater. Vor allem auch für die ausführliche Würdigung von Ulla Schmidt. Das hat mich sehr berührt und gefreut. Und insgesamt, Deine Zeilen lesend, sind bei mir soviele Erinnerungen hoch gekommen. Das war auch so, als ich mit Petra Bauer die Traueranzeige für Wolfgang Roth gemacht habe und all „die Alten“ mitgemacht haben. Es war wunderbar und hätte Wolfgang sehr gefallen, was sich da, auch hinter den Kulissen, abgespielt hat und wie man sich erinnert hat.