Wer kennt das nicht: Man nimmt ein Buch zur Hand, von dem man weiß, dass man es „früher“ schon einmal gelesen hat. Vielleicht hat man die Handlung noch im Kopf, aber sonst keine rechte Erinnerung mehr an diese Lektüre. Trotzdem treibt es einen um, sich doch noch einmal damit zu beschäftigen, weil man wissen will, wie sich das Buch heute liest, das man einst so sehr geschätzt hat. Und siehe da: es ist wie „neu gelesen“. Unwillkürlich steht die Frage im Raum: Was hat sich verändert, warum lesen wir es heute anders als früher? Vielleicht bringt uns dieses erneute Lesen erst auf die Spur, in dem Sinne, dass sich einem der Aufbau, die Konstruktion oder Sprache und Stil erst so richtig erschließen. Oder aber man erlebt eine Enttäuschung oder Ernüchterung, weil die Erst-Leseerfahrung in der Erinnerung glanzvoller abgespeichert war als es die Zweitlektüre nun hergibt. Schon diese ersten Überlegungen zeigen, dass es lohnend sein kann, sich etwas näher mit dem Sachverhalt des Wiederlesens zu befassen.
Es gibt verschiedene Anlässe, Motive oder Gründe des mehrfachen Lesens. Neben der Neugier und der gespannten Erwartungshaltung können Jahrestage der Verfasser*innen zum Wiederlesen veranlassen. Oder auch der erneute Versuch, einen Zugang zu einem literarischen Werk zu bekommen; entweder macht man die Erfahrung, dass es leider immer noch nicht „funkt“, oder aber das Gegenteil davon: endlich ist es gelungen, dem Werk das Gehörige und Gebotene abzugewinnen. Es kann auch sein, dass man es nun ein für allemal bleiben lässt; dann liegt es vielleicht auch am „Objekt“ der Enttäuschung oder Frustration und nicht immer nur an einem selbst.
Hilfreich sind auch die Hinweise eines Literaturkenners, dem man vertraut. Im Feuilleton findet man sie immer seltener. Häufig haben wir den Eindruck, hier kommt es vor allem darauf an, möglichst als Erster auf dem „Markt“ zu sein. Entsprechend oberflächlich sind viele dieser Rezensionen, so als habe man nicht viel mehr als den Klappentext eines Buches gelesen. Ein ganz anderes Kaliber sind da die Literaturanalysen z.B. von Dieter Wellershoff oder Hans Mayer. So schreibt Mayer in seiner Schrift Deutsche Literatur 1945-1985 einleitend über sein Verfahren bei der Zusammenstellung der Werke und ihrer Autoren: Auswahl war geboten, was immer Willkür bedeutet. Manches hatte man niemals gelesen: sollte man es jetzt nachholen? In einigen Fällen war es unabdingbar. So ergab sich die Faustregel: Lesen, Neulesen, Wiederlesen. So entstand (und entsteht) das vorliegende Buch.
Dieter Wellershoff hat ein ganzes Werk mit Romanbesprechungen hinterlassen: Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt. Es enthält Textanalysen vieler großer Romane der Weltliteratur und hat uns so manchen Zugang zu diesen Werken verschafft. Z.B. zum Roman Die Wellen von Viginia Woolf. Wir hatten mehrere vergebliche Versuche gemacht, uns das Buch zu erschließen. Erst durch die Hinweise Wellershoffs gelang es uns, den Sinn und die Großartigkeit dieses Romans zu erfassen und es gebührend zu genießen.
Unsere Erfahrung ist, dass es in vielen Fällen erhellend ist, nach einem längeren Zeitraum (machmal von mehreren Jahrzehnten) ein Buch wieder zu lesen. Denkt man z.B. daran, wie naiv wir in unserem jugendlichen Enthusiasmus die großen Romane des Fjodor Dostojewski gelesen, ja verschlungen haben, wird klar: Erst die Zweit- oder Drittlektüre eines solchen Werks eröffnet einem so etwas wie Erkenntnisglück (Wellershoff), weil wir erst jetzt – nach reiflichen Lebens- und Lese-Erfahrungen – in der Lage sind, ein solches Werk zu verstehen, und das heißt: die Hintergründe auszuleuchten, die Figuren in ihrem Zusammenspiel und ihrer sozialen und psychologischen Konstitution wahrzunehmen, sich an der Sprache zu erfreuen, sie mit anderen Autor*innen in Beziehung zu setzen und anderes mehr.
Wir als Leser*innen (Subjekte) haben uns verändert, und somit nehmen wir auch das Objekt, nämlich das Gelesene anders wahr: Wir haben (hoffentlich) an „sittlicher Reife“ gewonnen, (wie es unser selbst höchst belesener, gebildeter Buchhändler uns gegenüber einmal scherzhaft ausdrückte); wir kennen unsere Vorlieben, Präferenzen und Interessen besser, und auch unser Anspruchsniveau hat sich mit der Zeit gewandelt. Wir sind weit eher als früher in der Lage, Bezüge im literarischen Feld herzustellen, verfügen über einen erweiterten Blick (z.B. auch durch Sekundärliteratur) und entwickeln gewisse Ordnungschemata, die es uns erlauben und erleichtern, Verbindungslinien und Beziehungen thematischer oder stilistischer Art herzustellen. Dazu bedarf es nicht unbedingt eines literaturwissenschaftlichen Studiums. Während Petra ein solches absolviert hat, brach Joke sein Germanistikstudium ab, weil er drauf und dran war, die Freude an der Literatur zu verlieren. Ihm missfiel das ständige Sezieren, Periodisieren und Kategorisieren sowie die Verschulung des Studiums. So erschließt sich ja z.B. der Sinn oder die Schönheit eines Gedichts nicht dadurch, dass man viel über Jamben und Metren weiß.
Gedichte sollte man sich grundsätzlich laut vorlesen, um den Klang und den Rhythmus auch akustisch wahrzunehmen. Überhaupt hat das Vorlesen einen besonderen Reiz: es ermöglicht, den Anderen einzubeziehen und ist Voraussetzung dafür, über einen gelungenen Text zu diskutieren.
*
Auch wenn der zeitliche Abstand zwischen der Erst- und Zweitlektüre gering ist, kann das neuerliche Lesen reizvoll sein: Was habe ich beim ersten Lesen nicht alles übersehen und welche Freude bereitet es nun, das zunächst „Überlesene“ jetzt aufzusammeln und wie seltene Pilze vorsichtig in den Korb zu legen. Nun zeigt sich erst wirklich, was genaues Lesen bedeuten und bringen kann: den geschärften Blick auf Feinstrukturen etwa. Darauf macht auch Hans Mayer in seinem o.g. Werkaufmerksam, etwa wenn es in seiner Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson im Zusammenhang des Lernens im Fach Deutsch über den Lehrer Weserich heißt: Bei ihm lernen Gesine und Pagenkopf, ihr Mitschüler und Freund, weit mehr als ‚Deutsch‘, nämlich genau lesen, wiederlesen, das Geschriebene ernst nehmen, nicht sich selbst ‚einbringen‘ wollen, sondern einem Autor wie Theodor Fontane vertrauen. Leider sind solche Deutschlehrer*innen immer noch rar. Es ist beim genauen Lesen nicht nur eine Frage des Sich-Zeit-Lassens bei der Lektüre, sondern auch eine des rezeptionellen Zugewinns. Alles in allem lässt sich sagen: es gibt so etwas wie eine geheime Beziehung zwischen dem Lesenden und dem Gelesenen, zwischen dem Subjekt und Objekt des Lesens, und diese bleibt nicht konstant, sondern verwandelt sich im Laufe der Jahre, was die Sache noch aufregender und interessanter macht.
Bildquelle: Pixabay, Bild von Prettysleepy, Pixabay License