Der Wahlkampf nimmt zögerlich Fahrt auf und beschert uns eine Abfolge von Déjà-vus: Steuern rauf oder runter, Kritik an Wirtschaftskungelei versus Warnungen vor dem Bevormundungsstaat, das Winken mit rechten und linken Schreckgespenstern – tausendmal berührt, und jedes Mal passiert beim Wähler weniger. Man fragt sich mitunter, ob die Protagonisten selbst noch glauben, was sie da routiniert kredenzen. Wer sich das fragt, wird unsicherer in seiner Wahl. Wahl- und Popularitätsumfragen oszillieren zunehmend, Triumpfe und Niederlagen haben eine massiv schrumpfende Halbwertszeit, Prognosen werden schwieriger. Und ohnehin schwindet die Bindung der Wähler an Parteien immer weiter.
Entgegen häufig bemühter Lamentos liegt der Grund meines Erachtens weder darin, dass die Parteien auf ein verwechselbares Spektrum in der Mitte konvergiert seien, noch darin, dass sich die Wähler konfus verhielten, weil Facebook ihre politische Bildung zerstört hätte. Vielmehr funktioniert die klassische Kartierung nicht mehr, anhand derer Parteien von sich selbst sprechen und anhand derer über sie gesprochen wird. Rechts-Links. Konservativ-Progressiv.
Die großen Themen und Probleme unserer Zeit bildet das schlichtweg nicht mehr ab. Ob eine Pandemie, der Klimawandel, der demographische Wandel, die Digitalisierung, die Urbanisierung oder die Asymmetrie zwischen dem Gestaltungsanspruch des Nationalstaats und einer kleinen Gruppe Superreicher, die mehr Ressourcen mobilisieren können als manches Land: Nichts von alledem lässt sich entlang der üblichen Parteilinien verhandeln. Die Bevölkerung ist hierzu ebenso gespalten wie die Parteien (von Extremen abgesehen). Dennoch wollen und müssen wir ja alle Lösungen finden.
„Es ist die Haltung, Dummkopf.“
Seit mindestens 10 Jahren erleben wir daher, wie neue Parteien und Bewegungen weniger aus Milieus oder einem Traditionsverständnis heraus entstehen, sondern sich vielmehr um Haltungen herum formen (oft mit konkreten Themen als Kristallisationspunkt).
Weder die „Basis“ noch die AfD lassen sich darauf reduzieren, „rechtsextrem“ zu sein. Sie speisen ihre Popularität vielmehr aus dem Eindruck eines Kulturkampfes – der (vermeintlichen) Verachtung arroganter Eliten gegenüber den „normalen Menschen“, gepaart mit extremer Skepsis des Individuums gegenüber dem Staat. Genauso wenig lassen sich Fridays for Future oder Extinction Rebellion sinnvoll als „linke“ Bewegungen charakterisieren. Sie ziehen ihre Kraft aus dem Gefühl einer ganzen Generation, von ihrer Elterngeneration verraten zu werden und nur noch die Krümmel vom Buffet zu bekommen, während um sie herum das Haus abbrennt. Selbstverständlich gibt es in der AfD viele stramm Rechtsnationale, ebenso wie sich bei FFF zahlreiche Träumer*innen eines neuen Sozialismus tummeln. Doch das sind Nischen, selbst innerhalb der Parteien/Bewegungen. Sie mobilisieren einen harten Kern und rekrutieren Aktivisten, doch erklären nicht den Breiten-Appeal.
Nicht zuletzt Themen wie der Umgang mit Corona, die Debatten um Freihandelsabkommen wie das TTIP oder der Brexit schmieden oft ganz unerwartete Allianzen aus „Linken“ und „Rechten“, „ehrenwerten Bürgern“ und „Extremisten“, da sich viele Menschen in einer Haltung und Sache einig sind, die sich nicht mit dem Parteibuch ausdrücken lässt.
Nun ist dieser Befund nicht neu. Dass wir nach der Erosion klassischer Milieus zunehmend einen „Kampf der Haltungen“ erleben, ist Gemeinplatz. Doch der Haltungsbegriff selbst – und um welche Haltungen es dabei konkret gehen soll, wenn man „Haltung zeigen“ soll – bleibt meist so leer wie die Worthülsen in Wahlkampfspots. So werden neue Parteien und Bewegungen werden weiterhin (und immer hilfloser) mit Kategorien beschrieben, die kaum noch prognostische Kraft haben… „Nazi“ vs. „Kommunist“, Alter, Bildung und ähnlichen Nebensächlichkeiten.
„Haltung“ ist keine leere Formel – sondern lässt sich vermessen.
Ich bin der Ansicht, dass „Haltung“ genau der richtige Ansatz ist, um uns ein neues (Selbst-)Bild des politischen Geschehens zu liefern. Wir gehen damit zurück auf die zugrunde liegenden Überzeugungen, aus denen Meinungen und Handlungen überhaupt erst erwachsen. Auf die Basis dafür, was bei wem resonanzfähig ist und was nicht. Es ist offenkundig, dass wir hier deutlich mehr Prognosekraft, deutlich reichhaltigere Information finden als in den ewigen, lahmen Konflikten zwischen dem „satten Spießer“ und der „ungezogenen Göre“, dem „weißen alten Mann“ und der „woken Elitistin“.
Denn hinter diesen Konflikt- und Bruchlinien, den widerstreitenden Strömungen in der Gesellschaft, gibt es durchaus erkennbare Dimensionen. Haltungen kann man kartieren. Dafür existieren in Psychologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Kulturwissenschaft seit Jahrzehnten erprobte Modelle, um die unterbewussten Kategorien hinter Wertungen sichtbar zu machen.
Insbesondere drei Modelle haben sich in den verschiedensten Kontexten immer wieder erhärtet und bewährt, wenn es darum geht, Positionen und Entscheidungen daraus vorherzusagen, aus welchen Werten und Überzeugungen heraus sie getroffen werden:
- Das „Kulturdimensionen“-Modell von Geert Hofstede, das inzwischen als ein Wissenschafts-Klassiker gilt und seit den 80er Jahren sehr erfolgreich in zahlreichen betriebs- und volkswirtschaftlichen Kontexten angewendet wird.
- Das „Basic Human Values“ Inventar von Shalom Schwartz, seit den 90ern eine feste Größe nicht zuletzt im Marketing und die Grundlage der European Social Survey.
- Die „Cultural Map“ von Ronald Inglehart und Christian Welzel, die seit Ende der 90er Jahre in Politologie und Soziologie steile Karriere macht und das Rückgrat der World Value Survey bildet.
Diese drei verwandten Forschungsmodelle können auf Daten aus tausenden Studien zurückblicken und haben über ein breites Spektrum an Themen und Ländern hinweg ihre Eignung bewiesen, die Haltungen und Motivationen von Menschen greifbar zu machen und als Basis für eine sinnvolle Einteilung nach „Lagern“ heranzuziehen.
Trotz all ihrer Unterschiede (bei denen natürlich jede Schule die Überlegenheit der eigenen Methodik betont), sehe ich eine bemerkenswerte Einigkeit in ihren grundlegenden „Achsen“, auf denen Haltungen kartografiert werden. Ich würde sie auf folgende vier Dimensionen verdichten:
- Individualismus vs. Kollektivismus: Wie viel zählt ein einzelner Mensch? Was schuldet er seinem „Stamm“?
- Möglichkeit von Gestaltung: Wie weit können wir im Voraus planen? Gilt unsere Loyalität mehr dem (sicheren) Heute oder dem (spekulativen) Morgen?
- Braucht der Mensch Erziehung und Führung oder muss er sich nur selbst erkennen: Ist er im Kern edel oder sündig, ein Mängelwesen oder das Urmeter?
- Wie frei sind wir? Bestimmen uns Vergangenheit und Gene, oder können wir alles aus uns machen?
Ich bin mir sicher: wenn sich Kulturen und ihr Wandel, Unternehmenshandeln und Kundenpräferenzen so überzeugend aus diesen Dimensionen ableiten lassen, bringt es uns auch weiter, sie auf unsere politische Landschaft anzuwenden.
Der politische Haltungskompass – ein Versuch
Bereits 2013 habe ich auf dieser Basis ein Modell entwickelt und anhand der Bundestagswahl getestet. Damals wollte weder in der Wissenschaft noch in der Presse jemand davon wissen – dafür lag es zu quer zu den bestehenden Modellen, kam von keinem Professor und war auch zugegebener Maßen zu skizzenhaft. Doch denke ich an den Schulz-Zug-Hype und das Beinahe-Jamaika-Drama von 2017, blicke ich auf den aktuellen Wahlkampf mit seinen letzten Reflexen eines überkommenen Lagerdenkens, erscheint es mir mindestens ebenso aktuell und vielversprechend wie vor 8 Jahren.
Für das, was ich damals „Haltungskompass“ getauft habe, habe ich die gemeinsamen Dimensionen aus den oben erwähnten, bewährten Modellen auf den politischen Raum bezogen und entsprechend operationalisiert:
- Dimension 1: Bezugsebene politischer Gestaltung
Individuum vs. Gesellschaft / individualistisch vs. kollektivistisch
- Dimension 2: Funktionsweise und Zeithorizont politischer Gestaltung
Planung vs. Ermöglichung / Direktion vs. Selbstorganisation
- Dimension 3: Grund der Notwendigkeit politischer Gestaltung
Einhegung vs. Befreiung / Mensch als sündig vs. Mensch als edel
- Dimension 4: Auftrag und Grenzen politischer Gestaltung
Das Erbe verwalten vs. die Utopie realisieren / Nature vs. Nurture
Aus diesen Kategorien heraus lassen sich Parteiprogramme, Reden, Befragungen von Führungspersonal und Anhängern analysieren und auf den Dimensionen einordnen. Für Methodenfreunde: in Befragungen lässt sich damit gut für offene Gespräche mit dem Repertory Grid Verfahren, für standardisierte Bögen mit semantischen Differenzialen entlang der Dimensionen arbeiten. Für die Analysen von Reden und Programmen kommen deduktive Inhaltsanalysen mit empiriegeleiteter Kategorienbildung zum Einsatz, die sich mit Techniken wie Word Embedding Verfahren per KI automatisieren lassen (wie wir dies z.B. in unserem NEUTRUM THEMENNAVIGATOR tun).
Wenden wir dieses Modell an, erhalten wir einen ganz anderen Blick auf die Parteienlandschaft – der beispielsweise so aussehen kann (die Grafik ist rein zu Illustrationszwecken, mit Daten aus einem Testlauf von 2013 auf Basis der BTW-Wahlprogramme):
Wir erkennen sofort: die – vermeintlich verwechselbaren Parteien – haben vielleicht keine traditionellen Milieus mehr, aber ganz klare Haltungs-Profile, die entsprechende Wähler anziehen und aus denen sich auch konkrete Positionen zu Themen ableiten lassen. Je nachdem, wo sich auf diesen Dimensionen ein Thema verortet, führt dies zu unterschiedlicher Nähe zwischen den Parteien und somit zu verschiedenen möglichen (offiziellen oder impliziten) Koalitionen.
So ist es keinesfalls verwunderlich, dass in der Corona-Krise die Grünen oft „law and orderiger“ waren als die Union (Direktion, Mensch als sündig) und dass die FDP mit dem Hochhalten der Bürgerrechte gegenüber einem übergriffigen Staat deutlich stärker punkten konnte als die AfD, deren Ablehnung des „Nanny State“ bei der eigenen Basis kollidiert mit dem Bild des „sündigen Menschen“, der von starker Hand geführt und engmaschig kontrolliert werden muss (höchst ambivalentes Verhältnis zwischen den oberen beiden und den unteren beiden Dimensionen). Auch wird sofort ersichtlich, wo in einer Jamaica-Koalition eine mögliche Nähe zwischen Grünen und FDP und mögliche Bruchlinien zur Union liegen: nämlich im Glauben an die Möglichkeiten des Einzelnen, Herkunft und Traditionen zu überwinden, sich vom Geschäftsmodell bis zur Geschlechterdefinition neu zu denken. Die Frage, wie viel Kontrolle und Direktion der Staat ausüben sollte, ist hingegen der designierte Sprengsatz zwischen Grünen und FDP. Nicht zuletzt wird deutlich, wie stark die FDP – zumindest auf dem Papier – eine Sonderstellung im deutschen Parteiensystem innehat… was auch erklären mag, wieso sie bisher am Ehesten auf der Position des Liberos spielte.
Ein solches Modell lässt sich somit hervorragend heranziehen, um Szenarien durchzurechnen, wie eine mögliche Koalition „ticken“ wird – in dem die Werte der Parteien gewichtet werden mit ihrem Wahlergebnis (und man dabei berücksichtigen kann – über die Streuung – wie homogen die Parteien intern sind). So können wir eben nicht nur abschätzen, auf welche Projekte aus den Wahlprogrammen man sich womöglich als gemeinsamen Nenner verständigen wird, sondern insbesondere durchspielen, wie sie auf neue, heute noch unwissbare Gemengelagen und Herausforderungen reagieren wird.
Die untenstehende Darstellung ist ebenfalls aus dem Testlauf von 2013 und basiert auf den Ergebnissen der damaligen Bundestagswahl – insbesondere der Einfluss der Grünen in Koalitionen wird damit in Bezug auf 2021 massiv unterschätzt. Dennoch kann man am Graphen sehen, wie sich mit dem Haltungskompass arbeiten lässt:
So muss man davon ausgehen, dass eine grün-schwarze Koalition noch staatsgläubiger, kontrollaffiner und tendenziell konservativer wäre als die GroKo, allerdings zugleich ein individualistischeres Menschenbild anspricht. Grün-rot-rot hingegen würde an Kollektivismus und staatlicher Lenkung sicherlich ein Extrem abbilden, zugleich aber in der Kontrolle von Normen wesentlich laxer agieren und mehr Spielraum für ungewöhnliche Lebensmodelle erlauben.
Solche Szenarien kann man nun in Bezug auf konkrete Fragen (z.B. Umgang mit Verbrennungsmotoren, weiterer Kurs in der Corona-Pandemie, Gendersprache, etc.) durchgehen, die die vier Dimensionen unterschiedlich betreffen (was sich gut in einer Spinnennetzgrafik darstellen lässt), so dass die Resonanzen mit den Parteien/Lagern und die Ebene, auf der sich das Thema prinzipiell abspielt gut verorten lassen.
Es geht um weit mehr als um Modelle
Mein Haltungskompass ist nicht mehr als ein „Proof of Concept“ – ein erster Wurf zu einem Modell, in dem noch Vieles unausgegoren und unerprobt ist. Die Debatte aber, wie ein solches Koordinatensystem aussehen muss, um unsere Realität abzubilden, darf nicht nur Meinungsforscher und Data Scientists interessieren.
Denn ein politisches Modell, das wir als Heuristik über jede Debatte stülpen, ist eben mehr als nur Wissenschaft oder Kulturtechnik: Es prägt unsere Sprache und unsere Art zu denken, in dem es uns Kategorien bereitstellt, durch die wir auf das Geschehen blicken. So wie eine Schwarzlicht- oder 3D-Brille offenbart es uns neue Strukturen und macht uns zugleich blind für andere.
Eine Gesellschaft, die mit einer Brille auf sich selbst und die Politik blickt, die keine sinnvollen Muster mehr zeigt, befällt das quälende Gefühl, dass das, was sich auf der (politischen und medialen) Bühne vollzieht, mit einem selbst nicht mehr viel zu tun hat. Das es keiner für die eigene Lebenswelt relevanten Logik folgt. Im schlechtesten Fall: dass „die da oben eh tun, was sie wollen“ oder die andere Seite zutiefst unanständig ist. Aus Machtlosigkeitsgefühl erwachsen Entfremdung und Radikalität. Genau das erleben und messen wir seit Jahren.
Ein neues Modell zu finden, mit dem wir einander mit besserer Erklär- und Prognosequalität und zugleich differenzierter einschätzen können, ist somit ein Beitrag zu einer gesünderen politischeren Kultur – denn es erlaubt ein besseres Verständnis füreinander, zielgerichtetere Entscheidungen… und Debatten über die wirklichen Themen statt Scheingefechte über Oberflächlichkeiten. Man wird ja wohl noch Träume hegen dürfen…
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