Als Elisabeth Noelle 1963 mit ihrem Buch „Umfragen in der Massengesellschaft“ ein breiteres Publikum mit den Methoden der in den USA bereits populären Demoskopie bekannt machte, war die Welt der Politik und der Medien in der Bundesrepublik noch sehr übersichtlich. Die Union stellte seit 1949 den Bundeskanzler, die SPD saß wie festgeklebt auf der Bonner Oppositionsbank. Neben Presse und Rundfunk gab es mit ARD und ZDF nur zwei TV-Kanäle, die Meinungsforschung steckte noch in den Kinderschuhen.
Der vom Soziologen Jürgen Habermas beschriebene „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ vollzog sich erst in den Jahrzehnten danach, zuletzt in hohem Tempo. Mit den privaten Anbietern auf dem Fernsehmarkt erwuchs den öffentlich-rechtlichen Anstalten zunächst in den 1980er Jahren eine
mächtige Konkurrenz, vor allem aber sollte der Siegeszug des Internets wie der Sozialen Medien rund um die Jahrtausendwende nicht bloß den publizistischen Wettbewerb revolutionieren, sondern ebenso die Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Kommunikation und individuellen
Informationsverhaltens.
Heute befinden wir uns in einem Bundestagswahlkampf, der mehr als alle seine Vorgänger von den Umbrüchen der politischen Landschaft und den neuen Prozessen der Meinungsbildung geprägt wird – von wachsendem Populismus und sich auflösenden Parteibindungen, von flächendeckender
Digitalisierung und einer zerfasernden Öffentlichkeit. Mitten in diesen Veränderungen muss sich die Demoskopie als ein zeitgemäßes Messinstrument für persönliche wie kollektive Einstellungen bewähren, und der Bonner Politik-Professor Frank Decker sagt voraus, dass „die Demoskopie in diesem Wahlkampf eine noch größere Rolle spielen wird als früher“. Grund dafür seien die steigende Anzahl von Wechselwählern durch bröckelnde Parteipräferenzen sowie vielfältige Koalitionsmöglichkeiten, die sich auf der Basis aktueller Umfragen abzeichnen. Decker:“Wenn Woche für Woche von der Demoskopie ermittelt wird, wie die Mehrheitsverhältnisse im nächsten Bundestag sein können, hat das natürlich Einfluss auf das Wahlverhalten.“
Freilich sei die Wissenschaft bei der Frage, „wie groß dieser Einfluss im einzelnen ist und in welche Richtung er wirkt“, noch immer nicht viel weiter gekommen. Ohnehin sind die Unwägbarkeiten für die „Auguren der Nation“ gewachsen – durch oft „taktische“ Wahlentscheidungen in letzter Minute, durch unkalkulierbare Wahlbeteiligung, durch unvorhersehbare „Ereignisse“ kurz vor dem Wahltag. Auf drei bis fünf Prozentpunkte schätzen Experten die „Fehlertoleranz“ von Umfragen, bisweilen
liegen die Demoskopen – nicht nur bei US-Wahlen – auch noch deutlicher daneben, nach oben und unten.
So wie 2005, als SPD-Kanzler Gerhard Schröder erst in den Umfragen, dann in den Medien auf verlorenem Posten schien, am Ende aber nur knapp gegen Angela Merkel unterlag. Zornig zog der Genosse in einer legendären TV-Runde am Wahlabend gegen Demoskopen und Kolumnisten vom Leder, die er für seine Niederlage verantwortlich machte. „Flüchtige Stimmungen sind eben keine Stimmen“, heißt es dann meist zur Erklärung. Oder wie der langjährige Chef von „Infratest Dimap“, Richard Hilmer, einmal gesagt hat:“Nicht alles lässt sich in Zahlen fassen.“
Dennoch haben Demoskopen seit jeher eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im politischen Meinungskampf. Die CDU-Kanzler von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl ließen sich über Jahrzehnte vom Institut für Demoskopie beraten, das Elisabeth Noelle und ihr späterer Ehemann
Erich Peter Neumann am 8. Mai 1947 in Allensbach gegründet hatten. Kohl holte 1991 den Boss der Mannheimer „Forschungsgruppe Wahlen“, Wolfgang Gibowski, sogar als Vizechef ins Bundespresseamt, während sich die SPD-Spitze in den frühen Jahren der Bundesrepublik gern auf die „Volksbeobachter“ von „infas“ in Bad Godesberg, später zeitweise auf „Forsa“-Chef Manfred Güllner verließ.
„Demoskopisches Wissen kann Herrschaftswissen sein“, konstatiert Politikforscher Tilman Mayer. In den Parteizentralen entstanden daher ebenso wie bei der Bundesregierung stattliche Abteilungen für Meinungs- und Wahlforschung, die Umfragen in Auftrag geben und Zahlen interpretieren. Jüngst spottete der „Spiegel“ über „Politiker, die manisch auf Umfragen starren und alle wesentlichen Entscheidungen davon abhängig machen“. Die amtierende „Allensbach“-Direktorin Renate Köcher, gern bei Angela Merkel im Kanzleramt zu Gast, nennt es „die Erotik der Daten“,
von der sich die politische Klasse packen lässt.
Tatsächlich hat die Frequenz von Erhebungen („Gefühlt gibt es jeden Tag drei neue“, witzelt das Hamburger Magazin) stark zugenommen. Nicht nur Regierungen und Parteien sorgen dafür, dass die derzeit über 200 Institute in Deutschland gut beschäftigt sind, auch die Medien bezahlen für
demoskopisches Datenmaterial, das sie „exklusiv“ feilbieten. Ausschließlich auf Online-Umfragen hat sich das Berliner Marktforschungsunternehmen „Civey“ spezialisiert, das Daten fortlaufend in Echtzeit erhebt – 3500 verschiedene Umfragen „live und rund um die Uhr“. Die anfänglichen
Zweifel an der Repräsentativität von Internet-Abfragen sind weitgehend verstummt, denn 90 Prozent aller Bundesbürger sind inzwischen online aktiv.
„Civey“-Gründerin Janina Mütze (31) sagt selbstbewusst:“Wir haben durch das direkte Anzeigen der Ergebnisse für die Teilnehmer den Charakter von Umfragen verändert, es entsteht mehr Transparenz und Chancengerechtigkeit durch die Verbreitung von Informationen. Das ist ein
bisschen so wie bei Wikipedia.“ Mehr Wettbewerb vermindert zugleich das Risiko von Manipulation durch Umfragen. Dass der digitalen Demoskopie im aktuellen Bundestagswahlkampf die Gefahr von Cyberattacken durch (ausländische) Hacker und Bots drohen könnte, ist Janina Mütze bewusst, aber:“Wir prüfen unsere Systeme regelmäßig. Bisher hatten wir noch keine
besonderen Vorkommnisse.“
Auch die Strategen in den Wahlkampfzentralen der Parteien sollten dieses Mal besonders auf der Hut sein, nicht bloß wegen möglicher illegaler Einflussnahme von außen. Weder der gegenwärtige Höhenflug der Grünen (der aber immerhin schon seit Frühjahr 2019 anhält) noch die Popularität
ihrer Kanzlerkandidatin oder die soeben ermittelte „Wechselstimmung“ müssen bis Ende September stabil bleiben. Politikberater Klaus Kocks sagt über demoskopische Prognosen, sie seien nicht mehr als „Vermutungen und Spekulationen“, deren größte Fehlerquelle liege in der „Naivität ihrer
Interpreten“. Schon mehrfach haben sich Politiker verschätzt, wenn sie auf Umfragen ihre Hoffnungen gründeten. 2017 gab es einen wahren Hype um den „Heiligen Martin aus Würselen“, doch dann geriet der „Schulz-Zug“ ins Stocken und der SPD-Kanzlerkandidat blieb auf der Strecke.
Das hinderte den CSU-Vorsitzenden Markus Söder kürzlich nicht daran, im Zweikampf um die Spitzenposition der Union gegen Armin Laschet (CDU) seine weitaus besseren Sympathiewerte ins Feld zu führen, was nicht verfing. Ähnlich hatte es – allerdings mit Erfolg – 1998 Gerhard Schröder
im SPD-Kandidatenduell mit Parteichef Oskar Lafontaine praktiziert. Wiederum anders wurde bei den Grünen entschieden – hier ließ Robert Habeck trotz größeren Rückhalts bei den Wahlbürgern
seiner Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock den Vortritt als Kanzlerkandidatin. Es ist also nicht so, dass die Demoskopen automatisch über die Personalfragen der Parteien richten.
Bei Sachentscheidungen häufig schon. Nach dem Super-GAU von Fukushima ordnete Angela Merkel quasi im Handstreich den Atomausstieg in Deutschland an, 2015 ließ die Bundeskanzlerin die Grenzen für Flüchtlinge länger als andere Länder offen – es gab jeweils deutliche Mehrheiten für das Ende der Kernenergie wie für die „Willkommenskultur“. Politikforscher Decker erkennt darin eine Tendenz:“Der Parteienwettbewerb ist heute plebiszitär ausgerichtet.“ Wer auf Dauer an der Macht bleiben will, tut offenbar gut daran, „dem Volk aufs Maul zu schauen“ und den demoskopisch erfassten „Bürgerwillen“ zu beachten. Decker:“Meine These: Wir brauchen keine Plebiszite oder Volksabstimmungen, weil das Handeln unserer repräsentativen Institutionen schon sehr stark plebiszitär angeleitet ist, und zwar über Umfragen.“
Erstveröffentlicht in der Südwest Presse am 4.6.2021
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