Selten genug, dass die SPD-Führung in Gestalt von Sigmar Gabriel und Frau Nahles Recht hat. Beide fordern dazu auf, der von Bundeskanzler Schröder vor zehn Jahren verantworteten und auf den Weg gebrachten Arbeitsmarktreform Hartz IV Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ja, sie hatte Wirkung und zwar für die SPD in folgenreicher dreifacher Hinsicht: Die Massenarbeitslosigkeit wurde eingedämmt, aber der mit dem Ende der bipolaren Welt einhergehende entfesselte Kapitalismus nutzte die Reform zugleich dauerhaft für Lohndumping und Ausdehnung des Niedriglohnsektors und sie führte zum ebenso dauerhaften Verlust der Regierungsfähigkeit der SPD im Bund.
In zehn Jahren und zwei großen Koalitionen war es möglich, einen Teil der ungewollten sozialen Folgen von Hartz IV zu korrigieren und damit das Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften wieder zu verbessern, wenn auch noch längst nicht zu heilen. Die wichtigste Korrektur ist jetzt der, wenn auch zehn Jahre verspätete Mindestlohn, den die SPD gegen massiven Widerstand aus der Union als ihre wichtigste Bedingung für den Eintritt in die große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel durchsetzen konnte.
Andrea Nahles – vormals eine der heftigsten Kritikerinnen der Hartz IV Reform – und Sigmar Gabriel, Arbeitsministerin und Wirtschaftsminister in der großen Koalition – fordern Partei und Wähler auf, bei aller Kritik an Details, nicht zu übersehen, dass die Reformpolitik Schröders größten Anteil daran habe, dass Deutschland vom kranken Mann Europas wieder zum Wirtschaftswunderland geworden sei. Vielleicht ein Schritt, um das Vertrauen in die Sozialdemokratie zurückzugewinnen, um das Ghetto der mageren bundesweiten 25-Prozent-Zustimmung zu verlassen.
Die Forderung der beiden, den Blick jetzt nach vorn zu richten, ist richtig, wenn auch wohlfeil. Denn es ist durchaus umstritten, was nach vorn blicken bedeuten und welche Richtung gemeint sein könnte. Wie es scheint, hat der SPD-Vorsitzende seine Skepsis im Blick auf das EU-USA-Handelsabkommen, auch mit dem Kürzel TTIP versehen, ziemlich mühelos hinter sich gelassen. Das scheint auch für die Canada-Variante von TTIP zu gelten, die ein unabhängiges Schiedsverfahren beinhaltet, das internationalen Konzernen ermöglicht, gegen Gesetze, etwa im Umwelt- oder Sozialbereich zu klagen, weil sie erwartete Gewinne schmälern könnten. Gabriel erklärt, dies sei leider aus dem Abkommen mit Kanada nicht mehr „heraus zu verhandeln“. Wenn das auch für TTIP gilt, wäre es zugleich das Ende für die demokratisch legitimierte Souveränität des Rechtsstaates Bundesrepublik, die an der Garderobe der Schiedsgerichte abgegeben wäre. Das gälte auch für die EU insgesamt.
Schwer zu glauben, dass die Debatte über Europas Zukunft als Geleitschiff amerikanischer Handelsinteressen ein Beitrag wäre, die SPD wieder regierungsfähig zu machen. Wie kleinmütig die Partei derzeit ohnedies ist, zeigen die Vorstellungen der SPD-Generalin Yasmin Fahimi zur Reform des Wahlrechts. Offenbar glaubt sie tatsächlich, dass die dramatischen Wahlenthaltungen bei Landtags- und Kommunalwahlen ein Ergebnis kollektiven Bewegungsmangels der Wahlbürger sei, deren Unbeweglichkeit sie mit fahrenden Wahlkabinen, wahlweise vor die Haustür, den Supermarkt oder die Fußballstadien und auf mehrere Wochen verteilt, beizukommen hofft. Die Möglichkeit, dass sich Bürger von den um ihre Stimme buhlenden Parteien nicht mehr vertreten fühlen, schein daher für sie keine Rolle zu spielen.
Wie klein sollen sich Parteien also noch machen, wenn künftig die Wahlkabinen in die Wohnstube gebracht werden und Parteien darauf hoffen, nicht wegen Hausfriedensbruchs angezeigt zu werden. Die Versöhnung mit Hartz IV allein reicht wohl nicht aus, um die Abwesenheit sozialdemokratischer Regierungsverantwortung zu beenden.