Über eine der spannendsten Möglichkeiten mit Blick auf die Bundestagswahl wird kaum geredet. Es ist die Möglichkeit, ein Bundestagsmandat unter günstigen Bedingungen bereits mit weniger als 30 Prozent der Erststimmen zu erringen. Das ist vor allem Chance der jüngeren und jungen Frauen und Männer, die für den Bundestag kandidieren. Über 100 sollen es in der SPD sein, die im Juso-fähigen Alter (also bis 35) oder wenige Jahre älter auf den Listen für die Bundestagswahl stehen.
Zurzeit sieht es so aus: CDU/CSU liegen in der unteren Hälfte der zwanziger, also bis an die 25 Prozent. Die Grünen siedeln in der oberen Hälfte der zwanziger. An der Zahl 30 kratzen sie noch nicht. Die FDP liegt überwiegend jenseits der zehn, die AfD ebenfalls. Die Linke sitzt zwischen sechs und sieben, und die SPD oszilliert um die 15. Die jüngste Umfrage als Maßstab: Kantar gab26 für die Grünen an, 23 für die Union und 16 für die SPD. Macht eine Differenz von 10 Prozentpunkten. Nach der Bundestagswahl 2017 lagen CDU/CSU, SPD und die Grünen 24 Prozentpunkte auseinander. Die Sympathieverschiebung ist enorm.
Während die FDP- Bundestagsfraktion sich auch künftig ausschließlich aus Abgeordneten zusammensetzen wird, die über Landeslisten das Parlament erreichen, die Linke auf drei bis vier Direktmandate geschätzt wird, halten Fachleute es für möglich, dass die AfD im Osten bis zu 20 Mandate über die Erstimmen gewinnen könnte.
Im Zentrum des Interesses stehen die Union, die SPD und die Grünen. Gelingt es der SPD, eine Art „Rally-around-the-Flagg“- Wahlkampf zu führen, bei dem sich treue alte und neugierige neue Sympathisanten (und –innen) um die Fahne der Mutter der deutschen Parteien versammeln, wird die Wahlauseinandersetzung um die Mandate richtig spannend.
Gemessen an der SPD, die von unten kommt, hat es die CDU/CSU im Augenblick schwerer. Das liest sich wenig plausibel, es ist aber so, denn: Die Union ist innerlich zerrissen. Es geht in ihr immer noch mitleidlos und knüppelhart zu. Folgen wir einen Augenblick dem CSU-Generalsekretär Markus Blume: „Armin Laschet ist nun verantwortlich, die Umfragen zu drehen“, sagte Blume. Die bayerische Schwesterpartei dürfe nicht mit nach unten gezogen werden. „Als CSU müssen wir uns vom Bundestrend abkoppeln“, betonte er. Dabei setzte die Partei voll auf den bayerischen Ministerpräsidenten. „Die persönliche Zufriedenheit mit Markus Söder ist unverändert auf hohem Niveau stabil.“ So der CSU-General am 8. Mai in der Welt.
Blume weiß genau, was die Stunde geschlagen hat: Das Umfrageunternehmen INSA gab in der bisher letzten Umfrage am 24. April zu Bayern an: Wenn am kommenden Sonntag Landtagswahlen wäre, würden 36 Prozent ihr Kreuzchen bei der CSU machen, 24 Prozent bei Grün und neun Prozent der SPD den Vorzug geben (Rest: FDP 9, Linke 3, Freie 9, AfD 9). GMS hatte zwei Monate zuvor noch 47 Prozent für die CSU bei der Sonntagsfrage ausgemacht.
Ein Teil der CDU möchte jemanden wie den früheren Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen prominent in der Union untergebracht sehen. Maaßen treibt einem Teil der CDU, der Frauenunion und dem liberal-städtischen CDU-Publikum das Sonnige aus dem Gemüt. Im Osten des Landes trauern manche Unionisten Markus Söder nach und im Westen fordert CDA-Mann Dennis Radke zum Ärger des Wirtschaftsflügels der CDU einen ordentlichen europäischen Mindestlohn.
Ob die Union am Ruder bleiben kann, wird im August entschieden, nämlich dann, wenn sich klärt, ob die Pandemie tatsächlich ausklingt, die Bundeskanzlerin also Wort gehalten hat; und wenn Kanzlerin Merkel erkennen lässt, wer sie beerben soll – angelehnt an einen Filmtitel Tony Scotts mit Tom Cruise könnte man die Zeit „Tage des Donners“ nennen. Bis dahin betreibt Kanzlerkandidat Armin Laschet eine Art „Sammlungsbewegung“. Er ist ihr lebhafter Ausdruck: Mit Söder – alles bestens! Eine Type wie Maaßen – so einen muss eine Volkspartei aushalten! Mindestlohn – natürlich, sehr gern! Unternehmen und Gewinne – ja, aber hallo! Klimaschutz – machen wir, mit Augenmaß! Motto: Nur nichts und niemanden liegen lassen.
Im August wird auch erkennbar sein, ob die grüne Lebensgefühl-Partei mit besseren Werten in den letzten, entscheidenden Monat vor der Bundestagswahl steuert als die Union. Möglich ist das, aber nicht sicher. Deren Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock verkörpert ein verbreitetes Lebensgefühl: Locker sein, keine Kleinteiligkeit, wie sie mit Laschet verbunden wird, nichts Verkniffenes, wie es der Co-Vorsitzenden der SPD, Saskia Esken, nachläuft. Sie benötigt auch kein Computer-Gedächtnis wie ihr Kontrahent Olaf Scholz. Es ist wie Shakin´ Stevens zuhören, wenn er “Marie, Marie“ singt.
Gegenwärtig wird jedenfalls fabelhaft gearbeitet: Grün zeigt, wie man Bilder produziert, die positiv hervorragen und sich absetzen von den schier ewigen Talk- und Zoom- Wiedergaben, in denen es zugeht wie im Mensch-ärgere-Dich- nicht-Spiel. Die FAZ platzierte am 6.Mai auf der Seite drei über drei Spalten eine dpa-Aufnahme mit dem gesamten neuen Kabinett Baden-Württembergs. Als Gruppe abgelichtet, auf die Kamera zumarschierend, Kretschmann und Strobl in der ersten Reihe, den neuen Koalitionsvertrag in den Händen, Masken aufgesetzt. Überschrift: „Tausend neue Windräder.“ So macht man das!
Solche Gruppenfotos lassen CDU- Handreichungen ins Leere laufen, in denen suggeriert wird, Grünen-Politik sei wie der Fliegenpilz: Schön anzuschauen jedoch furchtbar schädlich. So macht man aus 101-prozentiger Anhängerschaft 102-prozentige. Der Rest hat schon abgeschaltet.
Freilich: Ein Slogan wie der aus der Ideenwerkstatt von Volker Riegger: „Deutsche, Ihr könnt stolz sein auf Euer Land.“ (November 1972), wäre heute in der SPD verdammt schwer durchzusetzen. Eher schon: „Stolz ist kein guter Ratgeber. Eure SPD“. Die erreichte damals mit 45,8 Prozent den höchsten Zweitstimmenanteil ihrer Geschichte, sie errang 152 Direktmandate – im Westen, die Unionsparteien 86. Der ältesten, ehrwürdigen Partei im Land ergeht es aber im Augenblick leider so, wie dem „Kölner Effzeh“: „Was hatte der mal für tolle“, stöhnen Traditionsfans, „den Dieter Müller, den Flohe und den Wolfgang und natürlich Toni…und Litti und später Poldi“.
Im Interview mit der TAZ macht der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert den Unterschied zur Sammlungsbewegung der Union deutlich: Das „Blatt wird sich jetzt zunehmend wenden. Unser Job ist es nun, für mehr Zuspitzung zu sorgen und nicht nur die Regierungsgeschäfte zu Ende zu bringen. Damit geht es heute los.“
Seine Nachfolgerin im Amt, die Juso- Bundesvorsitzende Jessica Rosenthal begann bereits auf dem Parteitag vom vergangenen Sonntag mit der Zuspitzung: Es sei „Zeit, die CDU raus zu schmeißen“.
In Entwürfen der für die SPD tätigen, auf Sportvermarktung spezialisierte Agentur Brinkmann & Co. wird Zuspitzen plakativ: Sattes Schwarz und knalliges Rot, harte Schnittflächen. Es sieht ein wenig so aus, als habe sich der Comic-Zeichner Mike Mignola („Hellboy“) über die Entwürfe gebeugt.
Martin Schulz hat 2017 – ob´s dem einen oder der anderen passt oder nicht, ist Nebensache – eine Marke vorgelegt: 20,5 Prozent. Die müsste möglich sein. Wenn es mehr werden soll, sind Voraussetzungen zu erfüllen:
- Viele der älter gewordenen Schröder- Wählerinnen und Wähler müssten zurückgeholt werden.
- Dabei hilft Autorität, die sich dem breiten Publikum mitteilt,
- Popularität durch Volksnähe erhöht die Chancen.,
- Die Wahlbevölkerung müsste einen Typus erleben können, der sowohl innere Sicherheit durchsetzt als auch
- eine gewandelte und erneuerte Bindung zwischen „Malochern und Waldläufern“ glaubwürdig vertritt, wie der 1998 verstorbene Sozialdemokrat Hans Otto Bäumer das einmal nannte: Also Klimaschutz, weil das soziale Gewissen schlägt.
So kann es klappen. Wahlzeiten machen Schwieriges möglich. Unter den Jüngeren, die in den Bundestag wollen, wird es manche geben, die so etwas im Sinn haben. Tüchtigkeit ist ja nicht ausgestorben. Muss Mensch sich wegen dieser Aussichten große Sorgen machen? Nein, das muss Mensch nicht. Schlimm ist, dass sich die AfD jenseits der zehn Prozent festsetzt. Von einer nennenswerten Wirkung dieser Partei auf Verfassungsorgane und Gesetze kann keine Rede sein. Trotz Pandemie und deren Folgen ist das Vertrauen in die Parteien nicht sonderlich schlecht: Nach dem Standard Eurobarometer der Europäischen Kommission hatten 37 v.H. der Menschen in Deutschland im Winter20-21 Vertrauen in die Parteien, 58 v.H. eher nicht. Im Frühjahr 2016 hatten 22 v.H. Vertrauen, 72 v.H. nicht.
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