Die hundert Prozent von Martin Schulz sind es nicht geworden. Dennoch – oder gerade deshalb – sprach Olaf Scholz von einem großartigen Ergebnis, als ihn der SPD-Bundesparteitag mit 96,2 Prozent als Kanzlerkandidaten bestätigt hat. „Das ist die Basis für den Erfolg“, sagte er noch, um dann – ganz wie es seiner sachlichen Art entspricht – hinzuzufügen: „Lasst uns an die Arbeit machen.“
In seiner Rede hat er der Sachlichkeit ein paar emotionale Tupfer verpasst. Insbesondere mit Blick auf die Pandemie äußerte er auch persönliche Empfindungen; doch im Großen und Ganzen gab er sich, wie man ihn kennt. „Ich kann das“, war schon fast ein programmatischer Satz, mit dem er auf seine Regierungserfahrung abhob. „Auf den Kanzler kommt es an“, betonte er, und einige Absätze später auch: „Auf die SPD kommt es an.“ Das war der Versuch, Partei und Person in Einklang zu bringen, verbunden mit dem Werben für eine breite Fortschrittsallianz, einer Öffnung in die Zivilgesellschaft. Für jeden einzelnen müsse erfahrbar werden, dass „der Fortschritt nach Corona Fortschritt für mich“ sei.
Vier „Zukunftsmissionen“ hat Scholz in den Mittelpunkt gestellt. Mobilität, Klimaschutz, Digitalisierung und Gesundheit. Dazu sprach er viel von Wohlstand und Sicherheit, vom „Führen und Zusammenführen“, sogar vom Johannes-Rau-Wort „Versöhnen statt Spalten“, vor allem aber vom Respekt. Ob das reicht, in den Kampf ums Kanzleramt noch einzugreifen?
Der Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) war der Erste, der als Kandidat für die Nachfolge von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) feststand; und doch ging es beim Parteitag gestern darum, ob er überhaupt noch als Dritter ins Spiel kommt. Die Aufmerksamkeit der Medien fokussiert sich auf die Konkurrenz und spitzt die Berichterstattung auf ein Duell zwischen Annalena Baerbock und Armin Laschet zu. Mit ihren anhaltend niedrigen Umfragewerten gilt die SPD vielen als zu vernachlässigende Größe.
Der Parteitag, der die Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz offiziell bekräftigte und das Wahlprogramm verabschiedete, war der Versuch, den Eindruck der Aussichtslosigkeit zu überwinden und die Aufholjagd zu starten. Für gewöhnlich gibt es dann stehende Ovationen, tost begeisterter Beifall und tönt ein rhythmisches „Jetzt geht’s loooos“ durch die Halle; nur – bei einem online-Parteitag, zu dem die 600 Delegierten via Internet zugeschaltet sind, kann die SPD ihre kämpferische Stärke kaum ausspielen. Aufbruchstimmung und Mobilisierung lassen sich mit applausähnlichen Geräuschen aus dem Off und einer Handvoll persönlicher Gratulanten kaum erzeugen. Der Wahlkampf bis September – mit Blick auf den erwarteten hohen Anteil an Briefwahlen auch schon bis August – muss neue Wege gehen und wird – noch stärker als sonst – von der Energie an der Basis leben.
Zum Parteitag selbst lässt sich nur sagen, dass die Parteispitze nichts falsch gemacht hat. Sie hat Kampfgeist und Geschlossenheit demonstriert. Sie hat keinen Zweifel aufkommen lassen, dass Olaf Scholz, den die Partei als Vorsitzenden nicht wollte, als Kanzlerkandidat unumstritten ist. Umgekehrt hat auch Scholz klargemacht, dass er für die frisch verabschiedete Programmatik seiner Partei einsteht. Schlüsselworte darin sind Respekt, Zusammenhalt und Gerechtigkeit, sozialdemokratische Begriffe, die in der Coronakrise eine Renaissance erfahren. Ob die damit verbundenen Zukunftskonzepte ausreichend Wähler*innen an die Wahlurnen bringen, steht auf einem anderen Blatt. In jedem Fall wird am 26. September auch für die SPD, die Olaf Scholz beharrlich als Volkspartei bezeichnet, ein neues Kapitel ihrer Geschichte geschrieben.