Für sie war es eine Frage der Ehre, gegen Hitler-Deutschland Widerstand zu leisten, oder gar ein Attentat auf den Führer zu versuchen, auch wenn es sie das Leben kostete: Sophie Scholl und all die anderen, ihr Bruder Hans, Georg Elser, der Einzelgänger und Schreiner, die Verschwörer des 20. Juli 1944 um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die Studenten Christoph Probst, Alexander Schmorell und Willi Graf, der Professor Kurt Huber. Sie wurden ermordet, hingerichtet mit der Guillotine wie Sophie Scholl, zu deren Aburteilung NS-Blutrichter Roland Freisler extra nach München gereist war. „Wären sie und andere nicht gegen Hitler aufgestanden“, urteilt der Historiker Heinrich August Winkler in seiner „Geschichte des Westens“, „die Deutschen hätten nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wenig gehabt, woran sie sich beim Rückblick auf die Jahre 1933 bis 1945 aufrichten konnten.“ Der Theologe Dietrich Bonhoeffer darf hier nicht vergessen werden, wie der Jesuitenpater Alfred Delp, oder Ludwig Beck, der zurückgetretene Generalstabschef, Leipzigs OB Carl Goerdeler, der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann, die SPD-Politiker Wilhelm Leuschner und Julius Leber. Und viele andere wie Nikolaus Groß, Arbeiterführer und Widerstandskämpfer.
Sophie Scholl wurde vor 100 Jahren-am 9. Mai 1921- in der Kleinstadt Forchtenberg im Hohenlohekreis in Baden-Württemberg geboren. Dort findet sich eine Gedenktafel mit dem Namen der Widerstandskämpferin, wie es in einem Text der Stadt heißt. Die sie nicht immer war, wie viele andere Jüngere und Ältere während der brauen Jahre. Auch sie war anfangs von Adolf Hitler begeistert, auch ihr Buder Hans war zunächst wie Abertausende in der Hitler-Jugend, Hans Scholl wurden im Russland-Feldzug die Augen geöffnet, was die Wehrmacht auf dem Gebiet der UdSSR an Verbrechen beging. Sie führte im Auftrag Hitlers und Himmlers einen Vernichtungskrieg und brannte Hunderte von Dörfern nieder und schlachtete die Bewohner ab.(Ian Kershaw: Höllensturz) Es war ein bodenloser Absturz der Unmenschlichkeit, in den die Menschheit durch den 2. Weltkrieg und die Nazis stürzte. Fanatischer Nationalismus und Antisemitismus, millionenfacher Mord an Juden in ganz Europa, Ermordung von Behinderten. Historiker sprechen von der „Hölle auf Erden“, die Millionen Menschen durchlitten, wenn sie sie denn überlebten. Man schätzte später die Euthanasie-Opfer auf 200000 Tote, Ärzte und Pfleger waren an der bewussten Tötung der Patienten massiv beteiligt. Der Völkermord an den Juden gehörte früh zum Plan der Nazis. So ist 1941 zu lesen, dass der Chef des Sicherheitsdienstes (SD) in Polen anregte, „wenn die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können, … ernsthaft zu erwägen, sie, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch ein schnell wirkendes Mittel zu erledigen.“ Der berüchtigte Chef des besetzten Polen, Hans Frank, begründete die Dringlichkeit der Vernichtung von 3,5 Millionen Juden in Polen mit den Worten: „Die Juden sind für uns außerordentlich schädliche Fresser.“
Der Zivilisationsbruch
Diese Brutalität, dieser Zivilisationsbruch mit der systematischen Vernichtung der Juden in den Konzentrationslagern wie Auschwitz, blieb dem gemeinen Soldaten und den Offizieren schon gar nicht verborgen. So schrieb NSDAP-Mitglied und SA-Mann Wilm Hosenfeld, der Hitler einst bewundert und an Deutschlands gerechte Sache im Krieg gegen den Bolschewismus geglaubt hatte, an seine Frau in einem Brief: „Ist es wirklich so, dass der Teufel Menschengestalt angenommen hat? Ich zweifle nicht daran… Das ist so eine entsetzliche Blutschuld, dass man vor Scham in den Boden sinken möchte.“ Die Zahl derer, die Juden halfen und „sich nobel verhielten, wird auf vielleicht 100 geschätzt“, schreibt Kershaw, „vielleicht waren es mehr…Gleichwohl ist die Zahl klein verglichen mit den 18 Millionen, die in der Wehrmacht dienten.“
Die Einsicht, dass man einem verbrecherischen Regime diente, kam den einen früh, den anderen spät. Auch einer wie der Münsteraner Kardinal Graf von Galen meldete sich ja erst spät gegen die Euthanasie zu Wort, gegen den Beginn des Kriegs in Polen oder dann gegen dieSowjetunion gab es kaum hörbaren Protest, er hätte ja auch tödliche Folgen gehabt. Und wer Heinrich-August Winklers großes schon zitiertes Werk über die „Geschichte des Westens“ liest, erfährt, dass Hitler eben populär war, am Anfang sowieso angesichts der Blitzkriege gegen Polen und Frankreich, aber sogar nach der Niederlage in Stalingrad und des sich verschärfenden Bombenkriegs der Alliierten gegen deutsche Städte hielt sich die Beliebtheit des obersten Nazi-Verbrechers. Selbst im Juli 1944 hätten die Verschwörer nicht sicher sein können, so Winkler, „ob sie das deutsche Volk durch Aufdeckung der NS-Verbrechen von der Notwendigkeit des Tyrannenmordes würden überzeugen können.“
„Vor dem Richterstuhl Freislers stand ein anderes Deutschland“(Winkler). Und seine besten Vertreter wären einzig ihrem eigenen Gewissen gefolgt, urteilt der Historiker. So wie das eben auch Sophie Scholl und Hans Scholl taten, die Begründer der „Weißen Rose“, die am 18. Februar 1943 unter dem Eindruck der Niederlage von Stalingrad im Lichthof der Ludwig-Maximilian-Universität zu München Hunderte von Flugblättern gegen die gewissenlose Kriegsführung Hitlers verteilten. Da ist Sophie Scholl zur Heldin geworden, gerade 21jährig. Und angesichts des Todes sagte sie: „So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen. Aber was liegt an unserem Leben, wenn wir es damit schaffen, Tausende von Menschen aufzurütteln und wachzurütteln.“ Sie war übrigens vom Hausmeister der Uni verpfiffen worden, er hatte sie beobachtet, wie sie Flugblätter in den Lichthof gestoßen hatte. Der Mann, der eine Belohnung von 3000 Reichsmark erhalten hatte, wurde nach dem Krieg verurteilt und bekannte: Er habe lediglich seine Pflicht getan.
Büste in der Walhalla
„Es reut mich nichts“, hat sie gesagt, so heißt auch eine neuere Biographie über sie, die zum Mythos geworden ist für den Widerstand gegen die Nazis. Ihre Büste, in Marmor gehauen, schmückt die Walhalla in Regensburg. Dort steht sie in der Ruhmeshalle der Deutschen neben anderen Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Käthe Kollwitz, Martin Luther. „Im Gedenken an alle, die gegen Unrecht, Gewalt und Terror des Dritten Reiches mutig Widerstand leisteten.“ Mythos und Heldin. Das Finanzministerium gibt eine 20-Euro-Münze heraus, die Post bringt eine Sonderbriefmarke auf den Markt mit dem berühmten Zitat „So ein herrlicher Tag…“. Freiheit, Widerstand, Mut, das ist es, Unabhängigkeit, ein Gefühl für Recht und Unrecht, dafür steht Sophie Scholl, dafür wird sie geehrt. Den Widerspruch, der sich in ihrer Vita findet mit ihrer Begeisterung für den Führer, schmälert ihre Rolle in diesem so kurzen Leben nicht. Sie ist verewigt an der Uni in München, Schulen sind nach ihr benannt, Rosen tragen ihren Namen, Tassen, T-Shirts, man kennt das überall in der Welt. Ein EU-Parlamentsgebäude in Brüssel wird ihren Namen tragen. Dass eine „Jana aus Kassel“ bei einer Querdenker-Veranstaltung bekannte, sie sei seit Monaten „aktiv im Widerstand“, gehe auf Demos, halte Reden, verteile Flyer und fühle sich wie „Sophie Scholl“, ist eine Geschichtsverdrehung sondergleichen, Weil die echte Sophie Scholl so etwas nie hätte machen dürfen, weil sie wirklich in einer Diktatur lebte, die brutal auf Proteste reagierte und mit ihren Protagonisten kurzen Prozess machte. Ob ein besserer Geschichts-Unterricht dieser „Jana aus Kassel“ helfen könnte? Viellleicht zeigt man ihr bei Gelegenheit mal Bilder von Auschwitz.
Abseits eines manchmal zu plakativen Gedenkens darf man auf die Grabstätte der Geschwister-Scholl verweisen. Auf dem Friedholf am Perlacher Forst liegen Hans und Sophie. Das Grab trägt die Nummer 73-1-18/19, zitiere ich aus der feinen Würdigung der Sophie Scholl in der „Süddeutschen Zeitung“. Die Autorin hat genau hingeschaut und die Kleinigkeiten der Grabstätte notiert: „Zwei miteinander verbundene Kreuze, ein paar flackernde Grableuchten, frische Primeln. Es gibt hier kein Bild, keine Skulptur, kein Zitat der Widerstandskämpferin, keine laute und plakative Form der Erinnerung. Sondern nur stilles Gedenken.“ Deshalb passt der Titel so zur Persönlichikeit der Sophie Scholl: Wahre Größe. Das letzte Wort soll hier Thomas Mann haben, der einst vor den Nazis in die USA entkam. Aus dem Exil würdigte er in einer BBC-Sendung die „Weiße Rose“ um die Geschwister Scholl: „Brave, herrliche junge Leute. Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein.“ Eben.