Mein Einsatz in der medizinischen Basisversorgung auf der Insel Lesbos im Flüchtlingslager Kara Tepe ist zu Ende gegangen, derzeit auf der Rückreise geht mir vieles durch den Kopf, was ich in den letzten 7 Wochen erlebt habe und das mich teilweise sehr aufgewühlt hat.
In den letzten Wochen bin ich immer wieder in mails und am Telefon gebeten worden, mehr über meine Arbeit zu erzählen. Es gab eine beeindruckende Bereitschaft, die Menschen vor Ort zu unterstützen, das kam besonders durch die Spendenaktion zum Ausdruck, die meine Familie aus Anlass meines Geburtstages gestartet hatte und die ein Echo ausgelöst hat, das mich auch heute noch sprachlos macht. Ich möchte alle, die dabei mitgemacht haben, sowie alle, die ihr Interesse an meinem Einsatz bekundet haben, mit dem nun folgenden Bericht teilhaben lassen, an dem was ich auf Lesbos erlebt habe.
Mein Entschluss zu diesem Einsatz ist entstanden aus Wut und Enttäuschung über die menschenverachtende europäische Flüchtlingspolitik, die an den Außengrenzen unseres Kontinents und insbesondere im Mittelmeer ein Massengrab für Menschen in Not zugelassen hat. Den Menschen, die diese mörderische Grenze überwunden haben und nun in gefängnisähnlichen Verhältnissen auf eine neue Chance für ihr Leben warten, zumindest symbolische Solidarität zu zeigen, war der Antrieb für meine Reise.
Gleich zu Beginn habe ich bei der Organisation meines Reiseweges eine wichtige Unterstützung erfahren. Im Reisebüro wurde ich von einem Mitarbeiter bedient, der sich dafür interessierte, warum ich um diese Jahreszeit Anfang Januar nach Lesbos wolle und das auch noch ohne zu fliegen. Wir kamen ins Gespräch, und er versicherte mir, er sehe seinen Beitrag zu meinem Einsatz darin, mich auf diesem etwas ungewöhnlichen Weg mit Zug, Bus und 2 Fährverbindungen sicher an mein Ziel zu bringen. Mit großer Geduld und Umsicht ist ihm das auch gelungen, wir waren dafür während meiner Rückreise immer wieder im Kontakt, so dass ich jeweils ganz kurzfristig immer zur richtigen Zeit die passenden Tickets zugeschickt bekommen habe.
Nach vielen Griechenlandreisen in der Vergangenheit war dieses Mal die Ankunft in Patras erstmals ziemlich befremdend: Ich war der einzige Passagier, der als Fußgänger die Fähre verließ, und direkt am Ende der Laderampe wartete ein Polizist auf einem Motorrad auf mich, prüfte meinen PCR-Testbericht und fuhr dann im Schritttempo mit Blaulicht mehrere hundert Meter vor mir her, bis ich das Hafengelände schwer bepackt mit Koffer und zwei Rucksäcken an einem weiteren Kontrollposten verlassen hatte.
Ohne Aufregung verlief auch die weitere Reise nicht, denn nachdem ich am Morgen des nächsten Tages meine Reservierungsnummer für die Fähre nach Lesbos im Büro der Fährlinie in ein Ticket getauscht hatte, stellte ich am Abend fest, dass überhaupt gar kein Schiff an der Kaimauer lag, es war wegen des geringeren Passagieraufkommens kurzfristig storniert und die Überfahrt auf den nächsten Tag verschoben worden – ohne jeden Hinweis für die Passagiere. So verzögerte sich meine Ankunft am Ziel zwar um 24 Stunden, aber mit dem positiven Nebeneffekt, dass ich gar keine Quarantäne mehr einhalten musste, da ich mich nun schon mehr als 3 Tage auf griechischem Boden befand. So wurde ich direkt nach der Landung in Mytilini zu meinem ersten Arbeitstag ins Flüchtlingscamp Kara Tepe gefahren.
Lina, die Koordinatorin des Teams, führte mich zunächst zusammen mit einem der Dolmetscher einmal durch das ganze Lager. Hier leben derzeit mehr als 7000 Menschen in Zelten direkt am Meer. Nach offiziellen Angaben des UNHCR kamen davon 72% aus Afghanistan, 9% aus der Demokratischen Republik Kongo, 7% aus Syrien, 4% aus Somalia und 2% aus dem Irak. 23% der Geflüchteten sind Frauen, 37 % Kinder und von diesen 70% unter 12 Jahren und 4% unbegleitet. Bei Sturm und Regen stehen die Wege zwischen den Zelten und ein Teil der Zelte auch direkt unter Wasser, sodass vor einigen Wochen in einem besonders betroffenen Areal die Zelte wieder abgebaut werden mussten, weil sich ein See gebildet hatte, in dem die Zelte keinen Halt mehr hatten. Die Zelte sind nummeriert und in Bereiche aufgeteilt: so gibt es einen Bereich für Familien, einen Bereich für allein lebende Frauen und Frauen mit Kindern, einen Bereich für unbegleitete Kinder und Jugendliche und einen Bereich für allein stehende Männer. In diesem Bereich des Camps kommt es immer wieder zu Streit und auch körperlicher Gewalt.
Auf dem Gelände des Camps befinden sich auch mehrere Container, in denen verschiedene Dienste ihre Büros haben: Polizei, Einwanderungsbehörde, gesundheitliche Versorgung, Sozialdienst, Behörde zur Organisation des Transfers aufs Festland. Eine Schule gab es früher in Moria und seit der Eröffnung des Lagers Kara Tepe in einem auswärtigen Gebäudekomplex, in dem auch andere Freizeit- und Therapieangebote gebündelt sind. Die Schule wurde allerdings vor einigen Monaten von Rechtsextremen niedergebrannt, seither gibt es für Kinder der Geflüchteten keine Möglichkeit mehr, eine Schule zu besuchen. Und auch alle anderen Kultur- und Freizeitangebote sind wegen der Corona-bedingten Lockdown-Maßnahmen seit Monaten komplett eingestellt.
Die Stromversorgung erfolgt über einen Generator und ist für den Bedarf der vielen Menschen nicht ausreichend. Es gibt eine Stunde Strom am Morgen, 2 Stunden am Nachmittag und teilweise auch in der Nacht. Wenn es besonders kalt ist und die BewohnerInnen sich in den Zelten an elektrischen Heizgeräten wärmen müssen, reicht die Stromversorgung nicht mehr für alle Zelte, dann ist sie immer nur für die Hälfte der Zelte verfügbar, die Zeit, in der für die BewohnerInnen elektrische Geräte nutzbar sind, wird entsprechend halbiert.
2x täglich werden Mahlzeiten ausgeteilt, das Mittagessen ist warm und wird von den BewohnerInnen so eingeteilt, dass es auch noch für den Abend reicht. Möglichkeiten zum eigenen Kochen sind in den Zelten nicht gegeben.
Die BewohnerInnen des Camps dürfen das Lager nur 2x pro Woche verlassen, während der Corona-Lockdown-Bestimmungen jeweils nur für 2 Stunden. Die konkreten Tage sind wöchentlich in einem Plan festgelegt, der online zugänglich ist und in dem die Ausgangsberechtigungen nach den jeweiligen Fallnummern auf den vorläufigen Ausweisen zugeteilt sind. Die Stadt Mytilini liegt ca. 5 km vom Camp entfernt, ist also in den zulässigen zwei Stunden Ausgang gar nicht erreichbar, Hauptziel der Menschen ist außerhalb des Lagers daher ein großer Lidl-Supermarkt, in dem sie einkaufen und während des Lockdowns erst einmal in einer langen Schlange auf Einlass warten, denn der Zugang ist begrenzt und wird durch Einlasskarten durch einen Sicherheitsdienst des Marktes streng reglementiert. Außerhalb dieser beiden Tage pro Woche ist das Verlassen des Camps nur mit einer speziellen Begründung auf Antrag möglich, dazu zählen besonders von den Ärzten im Camp angeforderte auswärtige Untersuchungen und Behandlungen. Am Ausgang steht immer die Polizei und überwacht die Einhaltung der verfügten Ausgangsbeschränkungen. Externe Besucher dürfen das Lager nur mit offizieller Genehmigung betreten, wir als Mitarbeiter einer der dort tätigen NGO´s müssen einen speziellen Dienstausweis vorzeigen, mit dem unsere Berechtigung nachgewiesen wird.
BewohnerInnen mit noch nicht entschiedenem Asylverfahren bekommen € 75,- pro Monat. Wer aus besonderen Gründen nicht im Camp wohnt, sondern auswärts lebt, bekommt € 130,- pro Monat, weil diese Menschen keine Mahlzeitenversorgung bekommen und daher einen höheren Alltagsaufwand haben. Wenn ein ablehnender Asylbescheid vorliegt, werden alle finanziellen Unterstützungen gestrichen.
Wer einen positiven Asylbescheid bekommen hat, kann das Lager erst verlassen, wenn ein gültiger Pass vorliegt, was mehrere Wochen dauern kann. Auch anerkannte Asylbewerber dürfen Griechenland nur für vorübergehende Reisen verlassen, einen Aufenthalts- oder gar Arbeitsanspruch in anderen europäischen Ländern haben sie nicht.
Es gibt in Kara Tepe keine organisierte Hilfe für die Betreuung während des Asylverfahrens. Die Bewerber sind den Behörden gegenüber ganz auf sich gestellt. Wer einen griechischen Rechtsanwalt zur Prozessbegleitung einschalten möchte, muss dies selbst organisieren und bezahlen, Rechtsanwälte berechnen für die Hilfe in der Regel € 1500,-, ein Betrag, den sich die AsylbewerberInnen nicht leisten können. Letztlich ist nur informelle Hilfe durch andere Asylbewerberinnen möglich, die schon mehr Erfahrung mit den Behörden haben und diese in Einzelgesprächen weitergeben.
In die gesundheitliche Versorgung der Geflüchteten sind staatliche Organisationen und mehrere griechische und internationale NGO´s einbezogen. Es finden regelmäßige Treffen der TeamkoordinatorInnen statt, um organisatorische Fragen der Zusammenarbeit zu besprechen. Jede der beteiligten Organisationen ist für bestimmte Aufgaben zuständig: Primary care wird von Medical Volunteers International täglich von Montag bis Freitag angeboten, eine Sprechstunde für chronische Erkrankungen ist die Aufgabe von Crisis Management Association (CMA), einer griechischen NGO, die eine Brückenfunktion zwischen dem staatlichen griechischen Gesundheitsdienst (EODY = National Public Health Organization) und den internationalen NGO´s einnimmt. Fast täglich wird eine pädiatrische Sprechstunde angeboten, die von einem Kinderarzt der staatlichen Gesundheitsorganisation EODY durchgeführt wird. Wir sind alle sehr froh, dass für die Kinder eine fachärztliche Expertise zur Verfügung steht und daher der Anteil an Kindern in unserer Klientel deutlich geringer ist als es der Zusammensetzung der Population der Geflüchteten im Lager entspricht, denn nur gelegentlich haben wir eine(n) Kinderarzt/ärztin in unserem Team. Ebenfalls unter der Verantwortung von EODY steht die Schwangerenbetreuung im Camp durch Hebammen und die regelmäßige gynäkologische Ambulanz, an die wir relativ kurzfristig PatientInnen überweisen können. Boat Refugee Foundation ist eine niederländische NGO und ist Anlaufstelle für Notfälle außerhalb der üblichen Öffnungszeiten der verschiedenen Ambulanzen. Auch das Rote Kreuz betreut im Camp außerhalb der Ambulanzcontainer medizinische Notfälle.
Für psychisch traumatisierte Menschen gibt es Angebote von mehreren Organisationen: MsF (Ärzte ohne Grenzen) bietet Hilfe für schwer Traumatisierte, die akuter Hilfe bedürfen und möglicherweise auch suizidal sind, auch für Kinder und Jugendliche. MVI bietet Gruppen für weniger schwer Traumatisierte getrennt für Frauen und Männer an. Braucht ein(e) Patient(in) eine psychiatrische einschließlich psychopharmakologischer Behandlung, geht das ausschließlich über einen Psychiater des staatlichen Gesundheitsdienstes EODY, der regelmäßige Sprechstunden in einem Container im Camp durchführt.
Was sich zunächst wie ein vielfältiges und differenziertes psychotherapeutisches Angebot anhört, ist im Alltag ein hoffnungslos überlastetes System. Alle Gruppen haben unvertretbar lange Wartezeiten, bei der Überweisung einer Patientin an MsF bekam ich per email die Rückmeldung, dass auf der Warteliste noch 93 andere KlientInnen stehen. Die meisten NGO-Angebote sind auf Gruppen ausgerichtet, weil die Einsatzzeit der Freiwilligen nicht lang genug ist, um sinnvolle Einzeltherapien durchführen zu können (Ausnahme ist nur MsF, deren MitarbeiterInnen sich für längere Zeiträume verpflichten). Anmeldungen für die psychiatrische Sprechstunde sind in hohem Maße bürokratisch: eine Patientin, die ich für schwer depressiv eingeschätzt habe und deswegen zum Psychiater überwiesen hatte, musste drei Mal bei der zuständigen Anmeldestelle von EODY vorsprechen, um dann beim dritten Mal auf eine Warteliste gesetzt zu werden, ohne eine Information, wann sie den Behandlungstermin bekommen werde.
Ganz aussichtslos ist die Lage für schwer Traumatisierte mit dissoziativen Störungen oder auch Suizidgefährdete, denn eine stationäre Versorgung solcher PatientInnen ist auf Lesbos gar nicht möglich und die Verlegung in spezialisierte Kliniken auf dem Festland wird von der staatlichen Gesundheitsbehörde abgelehnt, weil man vermeiden will, Anreize zur Nachahmung zu schaffen, denn den PatientInnen wird unterstellt, sie benutzten ihre Symptome bewusst, um eine Verlegung weg von der Insel aufs Festland zu erzwingen. Und so sehen wir täglich in der ganz normalen Ambulanz für Primary Care solche Menschen, die sich wöchentlich mehrmals verletzen und dann als einzige Behandlung von den Pflegekräften der Ambulanz eine Wundversorgung erhalten, während vor dem Behandlungsraum Polizisten für den Fall Wache stehen, dass die betroffenen PatientInnen sich im Behandlungsraum erneut Verletzungen zufügen.
Ein derzeit großes Problem ist die zahnärztliche Versorgung im Camp. Die bisher vor Ort arbeitenden ZahnärztInnen gab es in der gesamten Zeit meines Einsatzes nicht, eine Lösung wurde immer wieder angekündigt, aber wohl wegen der relativ langen Quarantänezeit vor und nach einem Einsatz nicht realisiert. So haben wir von MVI vorübergehend eine sehr eingeschränkte notfallmäßige Verfahrensweise entwickelt: Wenn PatientInnen mit Zahnschmerzen mit symptomatischer Schmerzmedikation nicht geholfen werden konnte, wurden sie in zwei Gruppen eingeteilt: solche mit einem akuten Abszess wurden notfallmäßig ins Krankenhaus geschickt, um dort den Abszess zu eröffnen. Für PatientInnen mit sehr schmerzhafter Karies haben wir in der Sprechstunde einen kurzfristigen Behandlungstermin bei einer griechischen Zahnärztin in der Stadt Mytilini organisiert und die Betroffenen dann mit dem Auto direkt dorthin gefahren. Es gab aber so viele AnwärterInnen für diese Behandlung, dass unsere Warteliste immer wieder wegen Überfüllung kurzfristig geschlossen werden musste, was natürlich für die schmerzgeplagten PatientInnen viele schlaflose Nächte zu Folge hatte.
Unsere Sprechstunden für Primary Care waren von Montag bis Freitag von 08:00 bis 14:00 geöffnet. Danach mussten wir unsere Arbeit beenden, auch wenn noch PatientInnen in der Warteschlange teilweise mehrere Stunden gewartet hatten, denn unsere Räume wurden am Nachmittag für die von der Basisversorgung abgetrennte Sprechstunde für Patienten mit chronischen Erkrankungen benötigt. Diese Sprechstunde für Menschen mit Diabetes, Bluthochdruck, Asthma und Epilepsie sind Aufgabe der o.g. griechischen NGO CMA (Crisis Management Association). Anfangs haben wir samstags und sonntags auch die Notfallsprechstunde von 10:00 bis 17:00 durchgeführt, diese Aufgabe hat in den folgenden Wochen dann eine andere NGO übernommen, so dass wir an den Wochenenden frei hatten.
Draußen im Freien vor den Containern findet die sogenannte Triage statt, hier haben einige unserer MitarbeiterInnen alle Patienten in der Warteschlange eingeteilt, ob sie ein Behandlungsticket für die primary care, für die Wundversorgung bei den Pflegekräften, für den Kinderarzt, für die Hebammen/GynäkologInnen oder für die Chronikersprechstunde bekommen sollten. Mit jeder der Ambulanzen wurde vorher vereinbart, wie viele „Tickets“ ausgegeben werden durften, um das Problem der erfolglosen Wartezeiten ohne letztendlichen Zugang zur Behandlung so gering wie möglich zu halten.
Gut gelöst ist die für alle Sprechstunden notwendigen Dolmetscherbegleitung – kein einfaches Problem bei so vielen Sprachen, die im Camp gesprochen werden (Farsi, Arabisch, Lingala, Somali, Französisch). Jede(m) unserer ÄrztInnen ist ein(e) Farsi-DolmetscherIn zugeteilt, weil diese Sprache am häufigsten gesprochen wird. Kommt ein(e) PatientIn mit einer anderen Sprache, wird schon im Wartebereich von den dort zuständigen Koordinatoren sofort ein(e) dazu passender Dolmetscher(in) mitgeschickt und die/der Farsi-DolmetscherIn kann in dieser Zeit für andere Patientenkontakte eingesetzt werden. Die Dolmetscher leben teilweise selbst als AsylbewerberInnen im Camp und können sich durch diese Arbeit bei verschiedenen NGO´s ein kleines Zusatzverdienst erarbeiten. Wie leicht nachvollziehbar kommt der Arbeit der ÜbersetzerInnen für den Verlauf einer Behandlung eine große Bedeutung zu. Die meisten sind natürlich nicht speziell geschult, haben aber eine unschätzbare Fähigkeit, weil sie das Leben im Camp genau kennen und daher über Detailkenntnisse verfügen, die uns immer wieder helfen, trotz aller Sprachbarrieren ein wenig das zu verstehen, was hinter den Beschwerdeschilderungen der PatientInnen das wirkliche Problem ist. Diese ganz besondere Expertise trägt sehr dazu bei, dass wir unsere PatientInnen über die sprachliche Vermittlung hinaus verstehen, auch wenn uns das sicherlich in vielen Fällen dennoch nicht gelungen ist.
Am Ende jeder Diagnostik sollte die geeignete Therapie stehen, das ist die berechtigte Erwartung aller PatientInnen an jeden von uns ÄrztInnen. Hierfür steht uns die Apotheke zur Verfügung, die von allen Ambulanzen gemeinsam genutzt, zu einem erheblichen Teil aber von MVI finanziert wird. Insbesondere die psychosomatischen Ursachen können wir aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren meistens gar nicht in ihrem ganzen Ausmaß verstehen und haben erst recht keine adäquaten Therapieangebote zur Verfügung. Gleichzeitig haben die Menschen, die uns ihr Leid geschildert haben, eine hohe Erwartung an uns, dass wir als Experten das geeignete „Mittel“ für ihre Krankheit finden. Und so geraten wir täglich viele Male in den nicht lösbaren Konflikt, medikamentös Symptome – insbesondere Schmerzen – zuzudecken in dem Bewusstsein, damit eine wirklich schlechte Medizin zu betreiben, die nicht nachhaltig helfen kann, aber dennoch Nebenwirkungen erzeugen kann.
Fast täglich kommen Menschen in unsere Sprechstunde, die mit den begrenzten Ressourcen im Camp nicht adäquat versorgt werden können. Für die Diagnostik gibt es ein kleines Labor, mit dem einfache Untersuchungen wie Blutbild, Entzündungswerte, Leber- und Nierenwerte vor Ort bestimmt werden können, und auch ein kleines Ultraschallgerät in der Größe eines Mobiltelefons steht uns dank der ganz spontanen Initiative einer amerikanischen Krankenschwester zur Verfügung, aber alle weiterführenden Untersuchungen müssen extern organisiert werden. Dazu bedarf es immer der Genehmigung der staatlichen griechischen Gesundheitsbehörde. Während meines Einsatzes war dies aber erfreulicherweise keine große Hürde, weil die dafür zuständigen zwei jungen griechischen Ärztinnen ausgesprochen kooperativ und hilfsbereit waren und uns nie einen Stein in den Weg gelegt haben. Dennoch war es besonders mit den angeforderten Röntgenuntersuchungen nicht ohne Tücken: Fast nie wurden die Aufnahmen im üblichen Standard angefertigt, aus mir nicht erfindlichen Gründen wurde immer nur eine Untersuchungsebene dargestellt und schriftliche Befunde gab es nie. Da keine(r) der EinsatzärztInnen Radiologe/in war, waren die eigenen Befundungen deswegen immer von begrenzter Aussagekraft.
Gut aufgestellt und für die alltäglich auftretenden Verletzungen und offenen Wunden wichtig ist die Wundversorgung im eigenen Projekt, weil regelmäßig zwei Krankenpflegekräfte zur Verfügung stehen, die an zwei Arbeitsplätzen mehrmals pro Woche die Verbandswechsel durchführen. So können wir die Heilverläufe und die eingesetzte Therapie engmaschig überwachen – ein wichtiger Standard, weil unter den gegebenen Lebensbedingungen im Camp Verbände schnell verschmutzen und so neue Infektionen auftreten können.
Anonym und insgesamt enttäuschend gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem griechischen Gesundheitssystem, wenn es um die stationäre Behandlung von Schwerkranken geht. Auch unsere beiden Kolleginnen von EODY, die formal die Einweisung auf unsere Empfehlung organisieren mussten, haben sich da oft die Zähne ausgebissen und wir alle sind in solchen Situationen nicht nur einmal verzweifelt. Notfallmäßige Behandlungen wurden in der Zeit meines Einsatzes meistens durchgeführt, Berichte mit wesentlichen Informationen über den Behandlungsverlauf habe ich in den 7 Wochen meines Einsatzes aber nicht gesehen, stattdessen aber bei Entlassung ein Rezept über Medikamente für die weitere Behandlung, ohne diese den PatientInnen mitzugeben. Es war dann regelmäßig die Aufgabe unserer kleinen spendenbasierten Apotheke mehrerer NGO´s, diese Lücke des staatlichen Gesundheitswesens zu schließen. Nicht selten wurden PatientInnen aber auch gar nicht aufgenommen oder sogar abgewiesen, ohne eine Ärztin oder einen Arzt im Krankenhaus gesehen zu haben. So habe ich z.B. einen Patienten ins Krankenhaus eingewiesen, der seit 4 Jahren Rückenschmerzen hatte, seit 1,5 Jahren so stark, dass er nicht mehr sitzen konnte. Er wurde immer nur mit Schmerzmitteln behandelt, bis vor 3 Monaten ein MRT der Lendenwirbelsäule angefordert wurde, das dann zwei Monate später im Januar 2021 durchgeführt wurde und einen Bandscheibenvorfall ergab. Einen Monat später schließlich wurde er im Krankenhaus Mytilini ambulant gesehen und die wahrscheinliche Indikation für eine Operation gestellt, deswegen solle er sich nach genau 2 Monaten noch einmal ambulant dann bei einem Neurochirurgen vorstellen, der den Plan für die weitere Behandlung veranlassen solle. Am selben Tag kam er dann zu uns in die Primary-Care-Sprechstunde, weil er wegen dieser ständigen Vertröstungsstrategie verzweifelt war. Zu diesem Zeitpunkt nahm er 8 Tabletten Diclofenac und 8 Tabletten Paracetamol täglich, um seine Schmerzen irgendwie auszuhalten. Damit war die zulässige Höchstdosis von Diclophenac um das 3-fache überschritten. In meiner Ratlosigkeit, wie diesem Patienten zu helfen sei, habe ich dann die Kolleginnen des staatlichen Gesundheitsdienstes um Rat gefragt. Diese schüttelten zwar gemeinsam mit mir den Kopf, waren sich aber sicher, dass sie eine Entscheidung der Klinikärzte vom selben Tag nicht sofort würden revidieren können. Wir vereinbarten daher, dem Patienten über unsere ehrenamtlichen Therapeutinnen eine Massage und Physiotherapie anzubieten trotz der fehlenden Erfolgsaussichten, aber mit der Chance, bei erwiesener Wirkungslosigkeit ein weiteres Argument ins Feld führen zu können, um die stationäre Behandlung zu beschleunigen. Eine weitere 29-jährige Patientin aus dem Kongo, die vor 2 Jahren in ihrem Heimatland gefoltert wurde und seit dieser Zeit starke Schmerzen im rechten Hüftgelenk hat, wurde immer nur mit Schmerzmitteln behandelt, bis eine Kollegin vor wenigen Wochen eine Röntgen-Untersuchung veranlasste, die einen alten Schenkelhalsbruch mit ausgeprägter Arthrose in dem fehlgestellten Hüftgelenk ergab. Die Beweglichkeit in dem Gelenk war schmerzbedingt fast vollständig aufgehoben. Für eine medizinisch indizierte Überführung der Patientin nach Athen zur weiteren orthopädisch-chirurgischen Behandlung fehlt aber nach den Kriterien der Behörden eine wichtige Voraussetzung: die Erkrankung bedroht nicht das Leben der Patientin, und so wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf unbestimmte Zeit weiter auf die erforderliche Behandlung warten müssen. Derzeit wartet sie auf die ambulante Vorstellung bei einem Orthopäden.
Nicht alles, was bei der Betreuung der Schwerkranken immer wieder Grund zur Verzweiflung gibt, ist dem Krankenhaus Mytilini anzulasten. Denn wenn das kleine Provinzkrankenhaus eine spezielle Behandlung gar nicht durchführen kann und deswegen eine Überführung aufs Festland empfiehlt, um die weitere Behandlung in einer spezialisierten Klinik in Athen fortzuführen, wird man mit dem nächsten nun ganz und gar bürokratischen Hindernis konfrontiert, das kein rationales Argument aus dem Weg räumen kann: die staatliche Behörde, die für die Genehmigung und Organisation dieser Überführung zuständig ist. Hier wird im Wesentlichen nach Gründen gesucht, um die medizinisch indizierte Verlegung weg von der Insel abzulehnen. Sei es, dass Coronabeschränkungen dem entgegenstehen (obwohl es täglich mehrere Flüge und mindestens zwei Fähren nach Athen gibt), sei es, dass man für einen Patienten, der wegen der Schwere seiner Erkrankung eigentlich ins Krankenhaus gehört, noch keine Unterkunft in der Stadt gefunden hat oder sei es die am meisten menschenverachtende Argumentation im Falle eines 8-jährigen Jungen mit ungeklärter massiver Nierenblutung: das Asylverfahren der Familie sei negativ beschieden worden, daher fehle die formale Voraussetzung für eine Verlegung nach Athen. Auf meine Frage an den zuständigen Beamten, den ich in meiner Empörung über diese Entscheidung selbst in seinem Büro auf dem Camp aufgesucht hatte, ob er in Kauf nehmen wolle, dass ohne Behandlung dieses Kind evtl. im Lager sterben könne, zuckte der nur mit den Schultern und gab mir zu verstehen, dass ich doch jetzt das Büro verlassen solle, weil er noch so viele andere Anträge zu bearbeiten habe.
Dies alles sind Einzelfälle, in denen ich manchmal an meiner Arbeit verzweifelt bin. Was aber bleibt als Bilanz der vielen anderen Behandlungen, die weniger spektakulär verliefen und mehr den Alltag der Probleme darstellen, mit denen die Menschen zu uns kamen und oft mehrere Stunden Wartezeit dafür in Kauf genommen haben? Das wichtigste, was wir anbieten konnten, war, dass wir uns immer die nötige Zeit genommen haben, um zuzuhören, was die PatientInnen uns sagen wollten. Viel zu selten sind wir dabei an den Kern ihrer Symptome herangekommen, haben evtl. etwas an der Oberfläche gekratzt und dabei auch nicht den Anspruch erhoben, alle Hintergründe aufzudecken, denn wir hätten für den weiteren Umgang mit diesen wirklichen Gründen all der vielen Rückenschmerzen, all der Schlaflosigkeit und all der Bauchschmerzen ja gar kein nachhaltiges Hilfsangebot zur Verfügung gehabt. Am Ende haben wir den sehr vordergründigen Wünschen unserer PatientInnen entsprochen und Schmerzmittel aller Art verschrieben. Wir hatten dabei immer alle ein schlechtes Gewissen, das kam in den wöchentlichen Teambesprechungen deutlich zum Ausdruck. Auch viele unserer PatientInnen waren und sind sich ganz offenbar bewusst, dass diese vielen Tabletten ihnen nicht wirklich helfen. Wir waren sehr glücklich, dass seit kurzem in unserem Projekt eine Physiotherapeutin und eine Masseurin ihre Behandlungen anbieten und haben davon lebhaft Gebrauch gemacht, denn so gab es doch noch eine andere Art der zuwendungsbasierten Behandlung als Alternative zu den immer gleichen zudeckenden Schmerzmitteln. Und dennoch: die Kombination aus Zuhören, das sonst im Alltag im Camp so selten ist, und der noch so oberflächlichen symptomatischen Therapie hilft vielen der Geflüchteten, ihren Alltag für eine begrenzte Zeit etwas leichter zu ertragen.
Insofern ist die Arbeit in der Primary Care in Kara Tepe unbedingt berechtigt, und einigen PatientInnen haben wir sogar richtig helfen können, weil sie so akut und schwer erkrankt waren, dass wir mit den notwendigen medizinischen Argumenten einige Hürden des griechischen Gesundheitssystems und der Bürokratie haben überwinden und ihnen die erforderliche Behandlung haben ermöglichen können. Aber das waren Einzelfälle, an der Hoffnungslosigkeit der Lebensumstände und Perspektiven dieser Menschen haben wir nichts, aber auch gar nichts geändert.
Das ist die wirklich erschütternde Erkenntnis, die ich am Ende dieses Einsatzes mit nach Hause nehme: Jede und jeder, die ihr Leben riskiert haben, um hierher nach Europa zu kommen, hat dies auf sich genommen wegen der Traumatisierung durch Gewalt, Folter und Vergewaltigung, die sie in ihren Heimatländern und auf der Flucht erlebt haben. Sie sind nach Europa gekommen nicht nur, um hier ein besseres Leben zu finden, sondern weil sie die furchtbaren Erlebnisse ein für alle Mal hinter sich lassen wollen und zutiefst auf das gehofft haben, für das Europa eigentlich steht: Menschenrechte, Freiheit des Denkens und des Glaubens, Chancengleichheit. Wir aber heißen sie entgegen dieser Werteversprechen nicht willkommen, sondern dulden eine menschenunwürdige gefängnisähnliche Unterbringung über Monate und Jahre, treiben sie zurück aufs Meer, um alle abzuschrecken, die eventuell folgen könnten. Nach Angaben des Aegean Boat Report, einer norwegischen NGO, die die Flüchtlingsbewegungen auf dem Mittelmeer systematisch beobachtet und dokumentiert, wurden allein im Monat Januar 2021 bei 32 Flüchtlingsbooten mit 803 Menschen an Bord 23 Boote und 615 Menschen an Bord durch die griechische Küstenwache zurück getrieben, das entspricht einem Push back-Anteil von 77% der Menschen, die nach Europa fliehen, allein in einem Monat.
Wir Europäer missachten inzwischen so oft universale Menschenrechte dass wir den Kern unseres Selbstverständnisses schon längst verloren haben. Wir sind gerade dabei, an der wichtigsten unserer historischen Aufgaben zu scheitern, indem wir die Menschenrechte, deren Schutz so unersetzlich wichtig ist, um eine humane Gesellschaft für die Zukunft zu erhalten, auf eine kalte Weise verraten, weil wir Angst vor denen haben, die Stimmung machen gegen alle, die scheinbar anders sind als wir. In den Wochen in Kara Tepe habe ich gelernt, dass wir auf diesem dunklen Weg viel weiter sind als ich befürchtet hatte. Kein Land darf sich hinter dem Vorwand verstecken, dass leider die anderen an einer menschenwürdigen Lösung nicht mitwirken wollen. Es gibt 234 Städte in Deutschland, die sich als sichere Häfen bereit erklärt haben, sofort zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist erbärmlich, dass die Bundesregierung nicht den Mut aufbringt, diese Hilfsbereitschaft endlich zuzulassen.
Bildquelle: Faktengebunden, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons
Zum Autor: Dr. med. Arndt Dohmen * 1950
Facharzt für Innere Medizin / Schwerpunkt Angiologie
ehemals Chefarzt Hochrhein-Klinik Bad Säckingen (Fachklinik für Gefäßerkrankungen)
ehemals ärztlicher Leiter des Interdisziplinären Gefäßzentrums Uniklinik Freiburg i. Br.
Pensioniert seit 01.01.2016
Medizinische Auslandseinsätze in Bolivien, Afghanistan, Bangladesch und Indien
Mitarbeit in der medizinischen Versorgung der Geflüchteten in Kara Tepe, Lesbos, von 12.01. bis 26.02.2021
Mitarbeit in der medizinischen Integration Geflüchteter in Freiburg i.Br. bei Refudocs Freiburg e.V. seit 2015