Was wurden zur Begründung für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan in den letzten zwanzig Jahren nicht alles für hehre Ziele genannt: Solidarität im Kampf gegen den Terror war nach dem Anschlag von 9/11 in den USA am 16. November 2001 die Begründung, mit der der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder durch die gleichzeitig gestellte Vertrauensfrage eine Mehrheit im Bundestag für die Beteiligung an der US-geführten „Antiterror-Operation Enduring Freedom“ (OEF) erzwang – damals mit bis zu 100 Spezialsoldaten. Mit dem Slogan „Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt“, hat 2003 Peter Struck als damaliger Verteidigungsminister den Kampfeinsatz, der bis 2010 nicht Krieg genannt werden durfte, verteidigt. Frieden, Demokratie und Menschenrechte, Sicherheit und Stabilität in der Region, Wiederaufbau, Kampf gegen Drogen, Reformen, Frauenrechte, Bildung, Meinungsfreiheit und viele andere „westlichen Werte“ wurden in den inzwischen zwanzig Abstimmungen im Bundestag herangezogen, um den Kriegseinsatz zu rechtfertigen.
Noch Anfang März verlängerte der Bundestag das Bundeswehrmandat für Afghanistan
Obwohl der frühere amerikanische Präsident Donald Trump schon im Februar 2020 im katarischen Doha ohne Rücksprache mit den Alliierten ein Abkommen mit den Taliban geschlossen und den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan zum 1. Mai 2021 ankündigte, machte sich die Verteidigungsministerin gut ein Jahr danach, also noch am 4. März 2021 im Deutschen Bundestag für eine Verlängerung des Mandats des Beitrags der Bundeswehr in Afghanistan mit aktuell 1.068 Soldatinnen und Soldaten bis Ende Januar 2022 stark. Die personelle Obergrenze sollte wie bisher bei 1.300 Bundeswehrangehörigen liegen.
Von Afghanistan dürfe kein „staatlich unterstützter internationaler islamischer Terror mehr ausgehen“, ohne den Einsatz der Bundeswehr hätten wir „nicht den Ansatz von Frauen in Bildung, in Ämtern“ und „nicht den Ansatz einer weiterentwickelten (afghanischen) Armee“ gehabt. Wir brauchten Zeit, „um eine politische Lösung der Konfliktparteien“ zu finden, damit die Friedensverhandlungen zu Ende geführt werden könnten und wir dürften die afghanischen Sicherheitskräfte „nicht unkontrolliert von heute auf morgen allein lassen“ , erklärte die Verteidigungsministerin. Auch Außenminister Heiko Maas warb im Parlament für eine erneute Verlängerung des Mandats: „Wenn wir unsere Soldatinnen und Soldaten überstürzt abziehen, dann droht die ernste Gefahr, dass die Taliban eine Lösung auf dem Schlachtfeld suchen, statt weiter zu verhandeln – mit all den dramatischen Folgen für alles, was wir in den letzten zwei Jahrzehnten in Afghanistan mit den Menschen vor Ort – mit der Zivilgesellschaft, mit den politisch Verantwortlichen – aufgebaut haben. Den Preis wollen wir nicht zahlen“. Und die Wehrbeauftragte Eva Högl pflichtete bei: „Es ist richtig, das Afghanistan-Mandat zu verlängern, weil es noch viele Fragen zu klären gilt“. „Wir dürfen sie nicht alleine lassen: Die afghanischen Sicherheitskräfte, die Bevölkerung – sie setzen auf uns“, sagte die verteidigungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Siemtje Möller. „Nur weil Militär im Land ist, wollen die Taliban überhaupt verhandeln“, mahnte der CDU-Fraktionsvize Johann Wadephul. Und was sich im Nachhinein als besonders absurdes Argument herausstellte, es wurde angeführt, man dürfe Joe Biden mit einem deutschen Alleingang nicht vor den Kopf stoßen.
Eine gute Woche später galten all die edlen Schwüre nicht mehr
Man nahm offenbar die Abzugsankündigung Donald Trumps nicht ernst und hoffte auf eine Kehrtwende seines Nachfolgers Joe Biden. Dieser ließ zwar den Abzugstermin 1. Mai verstreichen, kündigte jedoch am 13. April 2021 an, dass die amerikanischen Truppen ab Mai bis Mitte September dieses Jahres – das symbolische Datum der Terroranschläge vom 11. September wurde genannt – Afghanistan verlassen werden, ohne dass an den Abzug irgendwelche Bedingungen an den Taliban geknüpft worden wären: „Wir sind nach Afghanistan gegangen wegen eines schrecklichen Angriffs, der vor 20 Jahren geschah. Das kann nicht erklären, warum wir 2021 dort bleiben sollten…Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden. Es ist Zeit für die amerikanischen Truppen, nach Hause zu kommen“.
Diese Ankündigung hat sowohl die Bundesregierung als auch die Nato kalt erwischt. Die ach so selbstbewussten 30 Außen- und Verteidigungsminister des Militärbündnisses standen einen Tag später sozusagen „auf Befehl“ der aus Washington nach Brüssel angereisten Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd J. Austin „stramm“ und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg „salutierte“ militärisch knapp: „our drawdown will be orderly, coordinated, and deliberate“ („geordnet, koordiniert und überlegt“).
Die vollmundigen Versprechen Stoltenbergs und der Bundesregierung, man werde erst abziehen, wenn die Lage in Afghanistan dies zulasse und Erfolge bei den Friedensverhandlungen zwischen dem islamistischen Taliban und der Regierung in Kabul zu verzeichnen seien, waren nichts mehr wert.
All die hehren Ziele für den Kriegseinsatz entpuppten sich über Nacht als unaufrichtig, als vorgetäuscht, ja sogar als heuchlerisch.
Nun galt nur noch die Parole: Rette sich wer kann
So sagte Kramp-Karrenbauer ziemlich kleinlaut: „Wir haben immer gesagt: Wir gehen gemeinsam rein, wir gehen gemeinsam raus„. Die Verteidigungsministerin fügte in einem Tagesbefehl als neues Ziel hinzu: “Unser oberstes Ziel ist es, alle unsere Soldatinnen und Soldaten, zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie auch unsere internationalen Kameradinnen und Kameraden gesund und sicher in ihre Heimat zurückzubringen“, der geordnete Abzug werde daher „mit zusätzlichen Sicherungskräften“ begleitet und beschützt.
Auch Außenminister Maas ging es nun nur noch darum, den geordneten Rückzug der internationalen Truppen sicherzustellen. Präsident Joe Biden und Bundeskanzlerin Angela Merkel vereinbarten in einem Telefonat eine enge Abstimmung beim Abzug der Nato-Soldaten, wobei Deutschland derzeit der zweitgrößte Truppensteller ist.
Der geordnete Abzug gilt nun als Erfolg
Das ist also das Ergebnis eines zwanzigjährigen Krieges bei dem 160.000 Zivilisten sei es durch Militäreinsätze, sei es durch Anschläge ihr Leben verloren haben, (Süddeutsche Zeitung v.19.04.2021, S.7) bei dem mehr als 3.500 Soldatinnen und Soldaten gestorben sind und über 20.000 verwundet wurden, der ein Heer von vernachlässigten Veteranen hinterlässt, der allein bei der Bundeswehr 59 Menschenleben kostete und eine nicht überschaubare Zahl an verwundeten und traumatisierten Angehörigen der Armee. Der zweitlängste Kriegseinsatz der Bundeswehr kostete den Steuerzahler insgesamt nahezu 20 Milliarden Euro (bis Ende 2018 16,4 Milliarden Euro.
Militärisch war der Einsatz der USA, der Nato und weiterer „willigen“ Staaten in Afghanistan ein Fiasko
Der Abzug der derzeit noch 10.000 regulären Soldatinnen und Soldaten hinterlässt eines der ärmsten und gefährlichsten Länder der Welt. Experten sagen, dass die Lage im Land schlimmer denn je sei und dass nun ein Bürgerkrieg drohe.
Die UN-Mission „Unama“ registrierte im vergangenen Jahr insgesamt 3035 getötete und 5785 verwundete Zivilisten. Allein im letzten Monat sind bei Anschlägen 90 Menschen ums Leben gekommen. Die Taliban sind so stark wie schon lange nicht mehr, sie kontrollieren derzeit etwa die Hälfte des Landes. Die von der Nato unterstützte Regierung von Präsident Aschraf Ghani in Kabul hat weder die Macht noch die Autorität für ein friedliches Zusammenleben im Lande zu sorgen. Selbst das deutsche Verteidigungsministerium hat die Einschätzung, dass die afghanischen Sicherheitskräfte „noch nicht selbsttragen in der Lage (sind), flächendeckend für Sicherheit zu sorgen“.
Prompt haben die Taliban die vom früheren US-Präsidenten Trump verlangten Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung aufgekündigt.
Ob die internationalen Hilfsorganisationen in Afghanistan ohne militärischen Schutz weiterhin zivile Hilfe leisten können, ist unwahrscheinlich. Ob die von Entwicklungshilfeminister Gerd Müller zugesicherte weitere finanzielle Unterstützung überhaupt noch vor Ort umgesetzt werden kann, ist mehr als fraglich.
Forderung nach einer unabhängigen, wissenschaftlichen Evaluation
Die Opfer dieses Krieges sind nicht wieder gut zu machen. Aber das mindeste, was nach diesem militärischen und politischen Desaster gefordert werden muss, ist eine ungeschönte Bilanz und eine unabhängige Evaluation dieses Kriegseinsatzes, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Nachdem die Bundesregierung noch Anfang März dieses Jahres eine Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Thema „Evaluation des Bundeswehreinsatzes und Straflosigkeit von Kriegsverbrechen“ geradezu abgeschmettert hat, scheint nunmehr das Verteidigungsministerium der Forderung nach einer Bilanz entsprechen zu wollen. Im Tagesbefehl der Verteidigungsministerin vom 15. April 2021 heißt es: „Gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie den anderen beteiligten Ministerien der Bundesregierung werden wir nach der sicheren Heimkehr aller unserer Männer und Frauen eine gründliche Bilanz des vernetzten Ansatzes in Afghanistan ziehen“.
Der schöne Schein trügt allerdings: Wie sollten die genannten Ministerien, die noch vor kurzem mit hehrem Pathos eine Verlängerung des Mandats der Bundeswehr forderten und wenige Tage später von den eigenen Begründungen sang- und klanglos „abrückten“, glaubwürdige Instanzen für eine ehrliche Bilanz ihrer zurückliegenden Entscheidungen sein?
Das kann doch nur in einer Verteidigung und Rechtfertigung des vorausgegangen Redens und Handelns enden.
„Dass die Bundesregierung offenbar weiterhin nur eine interministerielle Untersuchung will, lässt vermuten, dass die politisch Verantwortlichen offenbar Angst vor dem Ergebnis haben, da es wahrscheinlich zeigen dürfte, dass ihre Rechtfertigung der andauernden Verlängerung der Bundeswehreinsätze, wie zuletzt im März, sich bei nüchterner und neutraler Betrachtung als unehrlich erweisen könnte“, sagt zurecht Jan Gildemeister von der kirchlichen „Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e.V.“.
Das Dilemma scheint auch die Wehrbeauftragte Eva Högl wenigstens zu ahnen, wenn sie fordert: „Ich erwarte, dass es nach dem Abzug eine kritische, ehrliche und möglichst unabhängige Bilanz zum Einsatz in Afghanistan gibt. Das sind wir den Soldatinnen und Soldaten sowie den Angehörigen der gefallenen Soldaten schuldig. Diese Analyse ist auch wichtig für alle weiteren Auslandseinsätze, damit aus Fehlern gelernt werden kann“.
Aber nein, nicht „möglichst unabhängig“ müsste eine kritische und ehrliche Bilanz sein, sondern eine regierungsunabhängige, wissenschaftliche Evaluation oder wenigstens eine parlamentarische Enquete dieses längsten und teuersten Kriegseinsatz mit vielen Toten und Verwundeten ist zwingend notwendig. Das sollte auch der Anspruch des Bundestags sein, wenn er das „Parlamentsbeteiligungsgesetz“ ernst nimmt und darauf beharrt, dass die Bundeswehr eine „Parlamentsarmee“ bleiben soll, deren Einsatz nicht nur von der Bundesregierung beurteilt werden soll und darf.
Bildquelle: ISAF Headquarters Public Affairs Office, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Volle Zustimmung.
Noch ein Aspekt: Wer mit den westlichen Truppen zusammenarbeitet, gilt den Taliban als Kollaborateur und hat ein Schicksal wie Mohammed Nadschibullāh zu erwarten. Es wäre eine Frage des Anstands, die gefährdeten, inländischen Helfern auszufliegen.