Können wir jetzt – bitteschön – die Sphäre der politischen Hysterie wieder verlassen, um uns den Problemen zuzuwenden, die auf uns wie Tsunamis zurollen? Also weg von den Herz- und Schmerz-Kandidaten wie Kandidatinnen und hinein in den Teil der Gesellschaft, wo´s wirklich weh tut.
Ich denke an die Situation im Bereich der Altenpflege. Gegenwärtig streiten sich die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di und die Arbeitgeber in der Altenpflege darum, ob alle berechtigten Pflegekräfte den Pandemie-Bonus von 1500 Euro erhalten hätten, der 2020 zugesagt worden war. Zahlen hat die Gewerkschaft nicht, sie stützt sich auf Ausarbeitungen eines Steuerberatungsunternehmens; die Arbeitgeber sagen, sie hätten ihre Pflicht der Weitergabe von zwei Dritteln des Bonus erledigt. Wer kann das klären?
2019 hatte der Bundesgesundheitsminister zugesagt, Mittel für die Bezahlung von 13 000 Pflegekräften bereit zu stellen. Knapp 3000 Stellen sind bislang besetzt. Die Spahn- Initiative zum Anwerben von Pflegekräften im Ausland, die hier helfen sollte, ist stecken geblieben. Der Bundesrechnungshof hat bereits in einem Bericht ziemlich rigide dazu aufgefordert, in diesem Fall die Reißleine zu ziehen. Denn im Fonds zur Finanzierung der 13 000 Arbeitskräfte liegen über 1000 Millionen € ungenutzt herum.
Auch das ist kennzeichnend: Vergangenes Jahr haben fast 10 000 Pflegefachkräfte ihre Arbeit an den Nagel gehängt – überwiegend Pflegerinnen und Pfleger aus den Krankenhäusern, aber auch aus der stationären wie der ambulanten Altenpflege. Viele Pflegerinnen und Pfleger können einfach nicht mehr. Das hat einen erstaunlichen Effekt: Die verbleibenden Pflegekräfte arbeiten weit über ihre physischen und psychischen Möglichkeiten hinaus weiter – bis zum völligen Ausgebrannt sein.
Nun hat der Minister weitere 20 000 Pflegehilfskräfte in Aussicht gestellt, die von der Pflegeversicherung bezahlt werden sollen. Woher die kommen sollen, ist offen.
Ein Gesetz zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, für diese Legislaturperiode von der Koalition beschlossen und zugesagt, hat bisher nicht einmal die Qualität eines Referentenentwurfs erreicht. Ein Arbeitspapier enthält eine Fülle Detailregelungen, freilich kaum etwas, das die Pflegeversicherung voranbringt, indem Belastungen neu austariert und Finanzierungsfragen gelöst würden.
Die Kosten der Behandlungspflege, also die durch ärztliche Tätigkeit an Pflegebedürftigen ausgelösten Kosten, bleiben weiterhin an den Pflegeversicherungen hängen. Sachlich richtig wäre eine Zuordnung zu den Krankenkassen.
Das Arbeitspapier spricht davon, dass Pflegeeinrichtungen in der Zukunft nur dann noch Verträge mit den Pflegekassen abschließen könnten, wenn Tarifentgelte gezahlt würden. Wie die geschätzten sechs bis sieben Milliarden Euro gegenfinanziert werden sollten, wird nicht gesagt. In Klammern geschrieben: Wo keine Tarifentgelte vereinbart würden, sollten ortsübliche Löhne und Gehälter möglich sein. Das ist schlicht Mogelei.
Vor allem bleibt unklar, wie die steigende Belastung der Pflegebedürftigen in Heimen durch Unterhalts-, Hotel- und Investitionskosten gestoppt werden könnte. Der Bremer Pflegewissenschaftler Professor Heinz Rothgang ist jedenfalls enttäuscht. Im Arbeitspapier steht, dass Heimbewohner im ersten Jahr um 25 Prozent, im zweiten Jahr um 50 und im dritten Jahr um 75 Prozent entlastet werden sollten. Ursprünglich sollten alle Eigenanteile auf 700 € im Monat begrenzt, also gedeckelt werden. Rothgang: „Ich war richtig glücklich.“
Und nun: Der neue Vorschlag sei nur „initial“ wirksam, er entfalte keine nachhaltige Wirkung. Der Anteil der Sozialhilfeempfänger unter den Pflegebedürftigen werde im Vergleich zum Status quo steigen, während er nach den ursprünglichen Spahn-Plänen sogar gesunken wäre. “Der neue Vorschlag ist Kaufen von Zeit und das Verschieben von Problemen auf die nächste Legislaturperiode“, so Rothgang. (ÄrzteZeitung vom 18.April 2021)
Kurz vor Ostern gab es ein Gespräch zwischen dem Minister und den zuständigen Abgeordneten der SPD –Fraktion. Der Minister habe das Gespräch wegen weiteren Klärungsbedarfs abgebrochen, hieß es. Ob der Spruch gilt: Kommt Zeit, kommt Rat, ist sehr zweifelhaft. Denn: Der Schätzerkreis beim Bundesamt für Soziale Sicherung erwartet für 2021 Ausgaben von 274,9 Milliarden der Gesetzlichen Krankenversicherung bei Einnahmen von 223,7 Milliarden Euro. Macht eine Differenz von 51,2 Milliarden Euro. Gegenzurechnen sind gut 20 Milliarden regulärer und außerordentlicher Bundeszuschuss. Bleiben 30 Milliarden, die durch Rücklagen zu decken wären. Die soziale Pflegeversicherung wird unter Minister Spahn „multimorbid“.
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