In der grünen Parteiführung ist die Doppelspitze erprobt, aber Spitzenkandidatin zur Bundestagswahl kann nur eine sein; deshalb ist es an sich eine Selbstverständlichkeit, dass sich der Parteivorstand der Grünen gut zwanzig Wochen vor der Wahl auf Annalena Baerbock festgelegt hat. Jung, weiblich, Mutter, zielstrebig: nach den grünen Prinzipien hat sie den Vortritt vor Robert Habeck. Der Ko-Vorsitzende in der Partei musste nicht gnädig zu ihren Gunsten verzichten; er war einfach nicht am Zug.
Das wird die Basis Mitte Juni wohl ganz genauso sehen, und sie tut gut daran – erstens ihre Kandidatin mit einem überzeugenden Rückhalt auszustatten und zweitens all die Argumente, die vermeintlich für Habeck sprachen, nicht gelten zu lassen. Sie sind – seien es nun Regierungserfahrung oder Umfragewerte – typische Einwände von Talkshow-Strategen, die mit herkömmlichen Mitteln eine sich wandelnde Politik analysieren. Die anhaltende Erfolgsserie der Grünen zeugt davon, dass ihr Anderssein ankommt, und zwar insbesondere hinsichtlich ihres Politikstils und des Umgangs miteinander.
Inhaltlich programmatisch vollziehen die Bündnisgrünen eine Entwicklung, die sie zu allen Seiten hin anschlussfähig macht; innerparteilich legen sie eine Geschlossenheit an den Tag, wie sie derzeit keine andere im Bundestag vertretene Partei aufweisen kann. Die erstmals nach vier Jahrzehnten realistisch werdende Aussicht auf das Kanzleramt und die Einsicht in die Gestaltungsmacht des Regierens befördern eine nie dagewesene Disziplin.
Vor dem Spiegel des unionsinternen Machtkampfs strahlt die grüne Harmonie doppelt hell. Sie ist – nach Jahrzehnten der Flügelkämpfe zwischen Realos und Fundis – vor allem das Verdienst von Baerbock, die sich mit einer klugen, überlegten und den Ausgleich suchenden Herangehensweise breite Anerkennung und Sympathie erarbeitet hat. Sie tritt jetzt aus dem Schatten von Habeck, weil es die Lage erfordert, und weil sie es kann. Ihre fachlichen und menschlichen Kompetenzen lassen auch im Vergleich zu dem Medienliebling Habeck nichts zu wünschen übrig.
Flugs haben übereifrige Zeitungsjournalisten das Wort „Kanzlerinkandidatin“ geschöpft. Die französische Tageszeitung „Les Echos“ bescheinigt Baerbock die nötige Kraft im Kampf um das Kanzleramt und sieht in der Grünen, die neben dem urgrünen Klimathema auch für ein starkes Europa steht, gar eine neue Angela Merkel.
Gewisse Wesenszüge, etwa dass beide wenig Aufhebens um die eigene Person machen, weisen Ähnlichkeiten auf. Doch das reicht weder aus, um der amtierenden Bundeskanzlerin zu unterstellen, sie halte sich aus dem Unionsstreit um die K-Frage heraus, weil ihr eigentliches Wohlwollen der grünen Spitzenkandidatin gelte, noch wird Baerbock den Dreikampf allein deshalb für sich entscheiden können. Zuerst wird am 26. September der Bundestag gewählt und dann – aus seiner Mitte – der Kanzler bzw. die Kanzlerin.
Es kommt also auf die Sitzverteilung im Parlament und die möglichen Mehrheiten an. Erstmals überhaupt haben sich die Grünen zu einer eigenen Kanzlerkandidatur durchgerungen, Annalena Baerbock ist mit 40 Jahren die jüngste aller bisherigen Bewerber*innen und sie ist bei der 20. Bundestagswahl seit 1949 erst die zweite Frau nach Angela Merkel, die sich um das höchste Regierungsamt bewirbt: Einige grüne Akzente also in einer Wahl mit ingesamt historischem Potenzial.
Bildquelle: flickr, Stephan Röhl, CC BY-SA 2.0