Frau Moller wohnt in meiner Nachbarschaft. Wir leben nicht Haus an Haus. Aber in unserem grünen Wohnviertel sind wir als Hundebesitzer gut über unseren unmittelbaren Lebensraum informiert, der Plausch im angrenzenden Stadtpark vermittelt nach einiger Zeit auch tiefere Einblicke in unsere Leben, die Auf und Abs bürgerlichen Mittelstandes. Frau Moller hat sich als Führungskraft eines internationalen Mineralölkonzerns vor einigen Jahren in den Ruhestand begeben müssen, um ihre schwere Krebserkrankung bekämpfen zu können. Sie hat mittlerweile die dritte Chemotherapie hinter sich und bekämpft mit einer eisernen Disziplin ihre Krankheit. Dazu gehört auch eine ungewöhnliche Offenheit, mit der sie sich ihrer Erkrankung stellt und uns ohne Erbitterung teilhaben lässt.
Frau Moller ist in der Mitte der 50er Jahre und wartet – wie ich erst jetzt erfahren habe – trotz ihrer schweren Erkrankung verbunden mit der hohen Infektionsgefahr immer noch auf einen Termin für die Corona-Schutzimpfung. Ihre Stärke, ihren Lebenswillen zieht sie wohl aus der Liebe zu ihrem Mann und wohl auch aus ihrem christlichen Glauben, der ihr offenbar Hoffnung über alle Zweifel und Ängste gibt.
Letzten Freitagabend hatten meine Frau und ich nach vielen vergeblichen Anläufen und Fehlinformationen das Glück, Termine für die Corona-Schutzimpfung mit Astra Zeneca per Internet zu bekommen. Das war das vorläufige Ende eines wochenlangen Dauerlaufs durch Institutionen, Warteschleifen, Anrufbeantworter, widersprüchliche Behördenangaben und nervenaufreibendem Ausharren bis in die Nächte.
Anderntags traf ich zufällig das Ehepaar Moller. Er hat sich wegen der Erkrankung seiner Frau beruflich eingeschränkt und ist jetzt gegenüber früher regelmäßiger zuhause. Wir kommen ins Reden. Erst etwas belangloses zur allgemeinen Lage bis wir -wie in diesen Zeiten üblich- Corona zum Thema machten. Da erzählte ich von unseren anstehenden Impfterminen. Für mich war eigentlich selbstverständlich, das die Mollers bereits geimpft waren. Nun, das ist nicht der Fall. Frau Mollers letzter Versuch nach vielen vergeblichen Anläufen war letzte Woche im Impfzentrum unserer Stadt, als sie ihre weit über 80jährigen Eltern zum Impftermin begleitete. Der Vater bat flehentlich seine krebskranke Tochter und nicht ihn, der kurz vor seinem Lebensende stehe, zu impfen. Vergeblich.
Als sie mir dies erzählten, musste ich an den Optiker denken, der sich und seine Familie bereits komplett Hat impfen lassen. Die Frau als Mitgefährdete im Geschäft und die Kinder als geringfügig Beschäftigte nach dem 450 Eur. Gesetz. Von Golfern aus der Hundebesitzerszene höre ich von buchbaren Impfterminen in Dubai, die man steuerlich auch locker als Businesstermin von der Steuer absetzten könne. Impfstoff gebe es nur vom „Feinsten“, von Pfizer.
Die Realität begegnet der Kakophonie von Brücken-Lockdowns und den politischen Irrwitzen aus Maskendeals, Schmiernetzwerken und vielschichtiger gesellschaftlicher Doppelzüngigkeit auf ganz unterschiedliche Weise.