Lieber Freund,
das Thema Respekt und Anerkennung ist wohl noch nicht ausgeschöpft. Gerade auch, weil es im Zusammenhang mit der lebhaft geführten Debatte um (linke) Identitätspolitik steht, die seit Anfang März innerhalb und außerhalb der SPD geführt wird. Angestoßen hat sie Wolfgang Thierse mit seiner deutlichen Kritik an der sogenannten Cancel Culture (Interview im DLF v. 25.02.2021), gefolgt von Gesine Schwan mit ihrem Plädoyer für gleiche Anerkennungschancen (DLF 05.03.2021 und ZDF 07.03.2021), und viele weitere Stimmen haben die Debatte belebt; auch im Blog der Republik hat sich Klaus Vater zum Begriff des Respekts geäußert. Und auch wir setzen mit diesem Brief unseren Gedankenaustausch zum Thema fort. So viel Auseinandersetzung und Streitlust hat es lange nicht gegeben, und das ist erst einmal gut so. Nun hast Du mich auf einen weiteren, wie ich finde hochinteressanten Beitrag zum Thema aufmerksam gemacht: den von Thomas Thiel in der FAZ vom 12.03.2021 („Wir haben Respekt für euer Elend“), auf den ich an dieser Stelle eingehen möchte.
Thiel sieht in der aufgekommenen Debatte um Respekt (vor dem Hintergrund von Olaf Scholz‘ Wahlprogramm) eher eine rhetorische „symbolpolitische Geste“ und verbindet damit – hier ähnlich wie Wolfgang Thierse – die Gefahr der „Individualisierung der sozialen Frage“ durch den Zerfall der Gesellschaft in zahlreiche, miteinander womöglich konkurrierende „Opfergruppen“. Er hegt den Verdacht auf eine „Verschiebung der politischen Koordinaten“ bei der SPD – weg von der „Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ hin zu „persönlichen Einstellungen“. Und schließlich befürchtet er die „identitätspolitische Konversion der sozialen Frage“: statt auf den Schutz garantierter Rechte (etwa auf Bildung) idealerweise unabhängig von Herkunft und Zugehörigkeit (soziale Chancengleichheit) zu setzen, werden die (traditionellen) Gedanken an Solidarität, Aufklärung und Kampf unterhöhlt durch die Zersplitterung von Kollektiv- in zahlreiche Partikularinteressen aufgrund von „Identitäten“. Der „Richtungskampf zwischen kulturalistischen und materialistischen Positionen“ habe sich zugunsten eines „Kulturalismus“ aufgelöst, der zum „identitären Dogma erstarrt“ sei und „von einer Elite zur Abgrenzung nach unten“ verwendet werde.
In dieser Perspektive erscheint der Respekt-Begriff in der Tat schillernd und beliebig. Zu fragen ist nun, ob und wie man die von Thiel benannten Gefahren bannen kann, indem man versucht, sie anders einzubetten.
Im Zusammenhang mit der „sozialer Frage“, die nach wie vor virulent ist, wäre es vielleicht ratsam, sie nicht gegen eine möglicherweise eher kulturalistisch fokussierte Perspektive auszuspielen, sondern von verschiedenen sozialen und kulturellen Ungleichheiten auszugehen, sie zu integrieren und mit unterschiedlichen politischen Instrumentarien zu „bearbeiten“. Aufgabe linker Politik, die sich der Ungleichheitsbekämpfung verschreibt, wäre es folglich, diese Integration konzeptionell zu erfassen und zu leisten. So wie es die originäre Aufgabe der SPD wäre, die soziale und die ökologische Frage zu integrieren, läge hier eine Entsprechung auf sozialpolitischer und kultureller Ebene vor.
So wäre auch mit den Begriffen Respekt und Anerkennung zu verfahren, indem man sie aus der symbolpolitischen Konstitution zugunsten einer klassenpolitischen herauslöste. Dann erscheinen sie als nicht beliebig verfüg- und einklagbar, sondern als rare soziale Ressource, um die auch gekämpft werden muss („Kampf um Anerkennung“ steht schon bei Hegel). Entlang der gesellschaftlichen Hierarchie werden denjenigen Beschäftigten, je weiter „unten“ sie situiert sind, in der Regel die wenigsten Anerkennungschancen zuteil, während es „oben“ genau umgekehrt aussieht. Und das hat neben dem „symbolischen“ Effekt auch einen „materiellen“, nämlich in der Verfügung oder Nichtverfügung über ökonomisches Kapital (Einkommen und Vermögen u.a. Ressourcen). Der klassenpolitische Ansatz für Respekt und Anerkennung läge im Erstreiten oder Erwirken von Kompensation, und zwar wiederum auf der kulturell-symbolischen Ebene (Wertschätzung der Person, Gruppe und ihrer Leistungen für die Gesellschaft) und der materiellen (anständige Bezahlung, tarifliche Aufwertung etc.). Entscheidend ist hierbei, dass letztere Anerkennungsform der ersten unbedingt folgen muss, denn allein das Schulterklopfen oder der berühmte Applaus reichen nicht aus (siehe die aktuelle Situation im Pflegebereich).
Zur Diskussion um Respekt aus der identitätspolitischen Perspektive nur soviel: Ich habe den Eindruck, dass es hier eher diejenigen Gruppen oder Personen sind, die ihre Erfahrungen etwa mit strukturellem Rassismus öffentlich kundtun, die – neben „diversen“ Merkmalen – über relativ viel kulturelles (und ökonomisches) Kapital verfügen (Thiel bezeichnet sie sogar als „Elite“), wodurch sie in der Lage sind, sich entsprechend zu artikulieren und so auch (idealerweise) zum Sprachrohr für Personen oder Gruppen werden können, denen diese Ressourcen eher fehlen. Insofern wäre hier die gesellschaftliche Anerkennung von Gruppen- oder Einzelinteressen eine Frage der Ermöglichung von gleichen Lebenschancen und Toleranz gegenüber all dem, das hier als kulturell „fremd und anders“ erscheint (Aussehen, Herkunft, Sexualität etc.).
Fazit: Linke Politik muss materielle und kulturelle Ungleichheiten zusammen sehen, verknüpfen und allen, denen Mißachtungserfahrungen, geringe Wertschätzung und wenig Anerkennung zuteil werden, die gebotenen Aufmerksamkeit und den solidarischen Rückhalt vermitteln – über gute Arbeit und Entlohnung, soziale Sicherheit, Chancengleichheit in der Bildung, Aufstiegsmöglichkeiten ohne „gläserne Decke“, Ermöglichung gleichwertiger „diverser“ Lebensformen etc. Insofern ist das Einfordern von „Respekt“ vielleicht die allgemeinste Formel, die, wenn ernstgemeint, mehr sein muss als „Symbolpolitik“, sondern die Voraussetzung für handfeste Verbesserungen; erst wenn die Mißstände und „Opfergruppen“ wahrgenommen und ernstgenommen, erkannt und anerkannt werden, können weiteren Schritte erfolgen.
Du siehst: Lotta continua. In diesem Sinne herzliche Grüße!
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