Selbstverständlich geben politische Meinungsumfragen Aufschluss über die jeweilige Stimmungslage in der Wahlbevölkerung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Deshalb ist der anhaltende Tiefstand für die Zustimmung zur SPD besorgniserregend und muss den Verantwortlichen in der Partei schlaflose Nächte bereiten. Denn die Meinungsbildung von Wählerinnen und Wählern wird durchaus über einen längeren Zeitraum beeinflusst oder gar geprägt. Erfahrene Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer preisen das ein. Allerdings sind Stimmungen nicht in Stein gemeißelte Wahlergebnisse, denn Stimmungen sind keine Stimmen. Auch dieses Wissen gehört zum Einmaleins von Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern. Insofern ist Vieles knapp sieben Monate vor der Bundestagswahl weiter im Fluss.
Heute ist nicht genau vorhersehbar, wie die wirtschaftliche und soziale Lage im Herbst sein wird, ob die Corona-Pandemie dann immer noch alles dominiert oder ob die Menschen bereits die Nach-Coronazeit in den Blick nehmen. Darauf vorbereitet zu sein, muss jetzt jedenfalls in der SPD gelernt werden. Und dazu gehört vor allem die Konzentration auf die politischen Big Points, mit denen die Mehrheit der Menschen beeindruckt und ihre Zustimmung gewonnen werden kann. In diesem Prozess hat die SPD jedenfalls durchaus Startvorteile. Ihre Personalentscheidung für die Spitze hat die Partei schon vor einigen Monaten getroffen. Olaf Scholz ist der Kanzlerkandidat. Damit gibt es Klarheit – für die Partei und für die Wählerinnen und Wähler. Im Vergleich mit den politischen Wettbewerbern ist das ein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn sowohl in der Union von CDU und CSU werden die Personaldiskussionen über die Kanzlerkandidatur ebenso noch länger anhalten wie die Auseinandersetzungen über die Spitzenkandidatur bei Bündnis 90/Die Grünen. Da liegt jedenfalls noch viel Konfliktpotenzial bei den politischen Wettbewerbern auf der Wegstrecke.
Außerdem bereitet die SPD schon seit längerer Zeit in vielen Foren, Gesprächskreisen und Diskussionsrunden ihr Programm für die Bundestagswahl vor. Sie ist damit bereits auf der Zielgeraden, der Vorstand hat einen Entwurf beschlossen. Für die Programmpartei SPD ist das enorm wichtig und in dieser disziplinierten Konzentration durchaus beachtlich. Allerdings wird es gerade in oder nach der pandemischen Lage vor allem darauf ankommen, die politischen Ziele zu verdichten, die Big Points herauszuarbeiten, denn die Menschen wollen wissen, wohin die Reise gehen soll. Klare Kante, das ist die Chance für Olaf Scholz, für seine SPD.
Drei große Bereiche werden für die Zukunftsgestaltung eine entscheidende Rolle spielen, Olaf Scholz hat sie schon skizziert:
- Initiative für eine humane und gerechte Arbeitswelt. Dazu gehören gute Ausbildung, gute Arbeit, gute Bezahlung, gute Arbeitsbedingungen, Wertschätzung der Arbeitsleistung der einzelnen Menschen, Gestaltung der Arbeitswelt, Mitbestimmung und starke Betriebsräte, Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben, soziale Absicherung im Alter.
- Initiative für Investitionen und Innovationen. Dazu zählen Investitionen in die Zukunft, die Niedrigzinsphase dafür nutzen, die Schuldenbremse lösen, die Folgen der pandemischen Unterstützungszahlungen sozial gerecht bewältigen, Klimawandel und Digitalisierung als Antrieb für staatliches Handeln nutzen, Forschung und Entwicklung vorantreiben, den Gesundheitsschutz weiterentwickeln.
- Initiative für ein solidarisches Europa. Dazu gehört zuallererst, Europa zusammenzuhalten und fit für die Zukunft zu machen, Solidarität vor nationale Egoismen stellen, Perspektiven für gemeinsame europäische Politik in der globalisierten Welt aufzeigen, die Menschen für Europa wieder begeistern.
Die große Klammer für diese drei Bereiche muss eine erkennbare und von allen politischen Wettbewerbern unterscheidbare sozialdemokratische Politik sein, also ein sozialdemokratisches Alleinstellungsmerkmal. Eine solche Politik bündelt sich immer noch in der großen Leitlinie „soziale Gerechtigkeit“, für die die SPD seit ihrer Gründung steht. Dadurch ist die SPD zur Volkspartei geworden und nur dadurch wird sie Volkspartei bleiben.
Es bleibt ein großer Irrtum anzunehmen, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen auf einen funktionierenden Sozialstaat verzichten könne. Nicht nur in dieser pandemischen Zeit besonderer Herausforderungen erweist es sich als Glücksfall, dass die SPD sich selbst als kleinere Regierungspartei erfolgreich dagegen gewehrt hat, den Sozialstaat weiter zu schleifen und stattdessen kräftige Investitionen in die soziale Absicherung der von den Auswirkungen der Corona-Pandemie gebeutelten Menschen oft gegen den Willen der Unionsparteien durchgesetzt hat. Privat vor Staat war noch nie eine Perspektive für die Mehrheit der Menschen, Solidarität schon.
Dass sich diese sozialdemokratische Zukunftspolitik (noch) nicht überall herumgesprochen hat, liegt nicht nur an der im öffentlichen Meinungsbild immer noch dominierenden Kanzlerin, sondern ist zum Teil auch hausgemacht. Da könnte im Willy-Brandt-Haus durchaus noch viel mehr Initiative und Kreativität darauf konzentriert werden, diese politischen Erfolge für die Menschen in Kampagnen geduldig und beharrlich an die Frau und an den Mann zu bringen. Helmut Schmidt hat zu Recht immer wieder gemahnt, dass politisches Handeln erklärt werden muss, immer und immer wieder. Bis es sitzt. Da ist noch viel Luft nach oben.
Die Menschen wollen und brauchen Sicherheit. Besonders in dieser schwierigen und unübersichtlichen Zeit großer Herausforderungen wollen sie wissen, wohin die Reise gehen soll. Die Merkel-Union war und ist dazu nicht in der Lage. Sie weiß selbst nicht, wohin sie will. Das hat die Kanzlerin gerade mit entwaffnender Offenheit eingeräumt, als sie erklärte, dass sie zwar jetzt versuche, „Brücken zu bauen“, aber auch nicht wisse, „wohin wir die genau bauen.“ Deutlicher als je zuvor machte die Kanzlerin klar, dass sie keinen Plan für die Zukunft hat. „Also, das Ufer sehen wir ja auch nicht“, gab sie unumwunden zu. Merkels neue Kleider und die CDU steht staunend dabei und sieht zu. Für Olaf Scholz ist die programmatische Ahnungslosigkeit der CDU eine Steilvorlage. Die Menschen lechzen inzwischen danach, Perspektiven zu erfahren. Sie wollen wissen, wie die Corona-Pandemie endlich gut bewältigt wird. Und sie wollen vor allem wissen, wie es danach weitergeht, was das für sie und ihr Leben bedeutet. Sie sind ja bereit und imstande, für sich und die ihnen Anvertrauten zu sorgen. Deshalb wollen sie aber auch Anerkennung für das von ihnen Geleistete. Sie wollen Respekt und ein gutes Auskommen. Die Menschen wollen Sicherheit für eine gute Zukunft. Sie wollen auch für sich ganz persönlich und ihre Familien ein Stück vom Glück. Olaf Scholz hat das erkannt.
Zum Gastautor: Norbert Römer, Ex-Fraktionschef der NRW-SPD und Mitglied der IGBCE
Bildquelle: flickr, SPD in Niedersachsen, CC BY-SA 2.0