Was bleibt nach Briefwechsel und Telefonaten zwischen Wolfgang Thierse auf der einen Seite und einem Teil der SPD- Führung auf der anderen Seite? Wurde eine Streitfrage gelöst? Ein Problem behoben? Wurden Verletzungen geheilt? Haben sich Autoritäten gemeldet, um zu vermitteln? Warum reichten die Autoritäten von Gesine Schwan und Wolfgang Thierse nicht, einen Streit zu beenden? Welche Position hat die SPD-Führung insgesamt bezogen? Wie wirkte die Kontroverse auf den Teil der Gesellschaft, der traditionell die Intellektuellen genannt wird? Gibt es diesen Teil noch? Was bleibt?
Der wirklich irre Teil der Kontroverse besteht darin, dass die eine Seite für sich beansprucht, wissenschaftlich, zugleich auf der Höhe der Zeit und moralisch qualifiziert zu sein. Das ist eine ganze Menge. Stimmt das denn?
Horst Bredekamp hat in einem wütenden Text an den Gründervater der Anthropologie Franz Boas erinnert (Fanatiker der Reinheit, FAZ vom 8.März 2021, Seite 11). Boas und seine Schülerinnen, vor allem Margaret Mead haben der Welt eine neue, dauerhafte „Erzählung“ verpasst; die vom Nebeneinander der Lebensweisen, Verhaltensweisen, vom Wert jeder einzelnen Entwicklung. Der Politikwissenschaftler Charles King hat kürzlich ein beeindruckendes Buch über Boas und die Seinen vorgelegt: „Schule der Rebellen“, nannte er das Buch, bei Hanser erschienen, 479 Seiten, € 26,00. Und: „Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand“, lautete die Unterzeile (How a Circle of Renegade Anthropologists Reinvented Race, Sex and Gender in the Twentieth Century)
Es ist dringend, den Blick auf Boas und andere zurück zu werfen. Denn sie haben damals der westlichen Welt zwischen Sibirien, Europa und Alaska die bornierte Auffassung von der alleinigen Gültigkeit ihrer Auffassungen ausgetrieben. Sie haben das auf eine Weise getan, die heute faktisch nicht mehr möglich wäre.
Können Sie sich liebe Leserin, lieber Leser vorstellen, dass eine wiedergeborene Margaret Mead (sie starb 1978 in New York) wie weiland das Original auf Samoa einer Ethnie auf den Leib rückt und der Löcher ins Leben fragt ohne auf wütenden Protest von Postkolonialisten zu stoßen? Das darf die nicht! Das kann die nicht! Das ist eine Weiße aus der Weißen Mittelklasse mit den üblichen Flausen und Dünkeln der weißen Mittelschicht, die hat da nichts zu suchen! So in etwa, wär das Echo und in unseren deutschen Feuilletons würden einige schreiben: Muss man verstehen. Würde wer sich dagegen regen, könnt ihm passieren, dass es heißt: Wir schämen uns, der/die – sind leider nicht auf der Höhe, etwas rückwärts. Sorry.
Dabei war es das Eindringen in die andere Kultur, in anderes Leben, das der Welt die neue, dauerhafte Erzählung brachte.
Heute dreht sich Streit darum, ob es duldhaft ist, dass eine weiße Frau Gedichte einer schwarzen Frau übersetzen darf; ob ein älterer weißer Herr, Herr Thierse, über Gewesenes reden darf, dass Menschen aus anderen Ethnien in erster Linie traf und betraf und die kollektiven Vorfahren Thierses in zweiter oder dritter Hinsicht betraf. Kultur war doch, soweit unsere übermittelten Erinnerungen reichen, immer Kennenlernen, Aneignen und Verändern. Das ist unser Bewegungsgesetz. Wer dieses Bewegungsgesetz außer Kraft setzt, der hebt Geschichte an der einen Ecke an, so dass sie an der anderen Seite ins Vergessen rutscht.
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