Ermutigend ist der Blick zurück nicht. In seinem Buch „Kurze Geschichte des Antisemitismus“ vermittelt der renommierte Judaist Peter Schäfer die Erkenntnis, dass sich die „Hydra des Antisemitismus“ in 3000 Jahren als „unsterblich“ erwiesen hat. Auszurotten war er nicht. Wenn er in der einen Geschichtsphase, an einem Ort eingedämmt wurde, wuchsen Judenhass und Antisemitismus zur anderen Zeit, an anderem Ort meist noch verheerender und bösartiger nach. Schäfer, führender Experte für das Judentum der Antike, von 2014 bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, ist sich sicher, dass „der Antisemitismus nach den Erfahrungen der Geschichte nie ein für alle Mal überwunden sein wird“.
Schäfer, der den erst im 19. Jahrhundert entstandenen Begriff des Antisemitismus bewusst für seinen Rückblick benutzt, weist die Ausgrenzung, Schmähung und Vernichtung der Juden als durchaus gängiges Übel bereits in der Antike nach. Schon im biblischen Buch Esther, vermutlich 300 vor Christus geschrieben, wird vom Plan des persischen Königs berichtet, die Juden in seinem Reich zu vernichtet. Ihr Glaube an einen namenlosen Gott, ihre Abgrenzung von anderen Völkern, unterstellte Heimtücke machte sie verdächtig. Die schreckliche Geburt des Antisemitismus.
Der bekam mit dem entstehenden Christentum zusätzliche Schärfe, weil die Juden in den Evangelien – vor allem in dem von Matthäus – für die Kreuzigung Jesus verantwortlich gemacht wurden. Ihr Glaube, ihre Thora, das Festhalten an der hebräischen Bibel wies sie im Johannes-Evangelium als Vertreter der Finsternis aus, während die sich zu Christus bekennenden Juden – und immer mehr Nicht-Juden – durch den „Neuen Bund“ zum Licht strebten. Dieser Bruch ist für Schäfer der Kern des Unheils, das die Juden in den nächsten zwei Jahrtausenden zu erleiden hatten, weil sie im christlichen Antijudaismus fortan „zu den ewigen Feinden Jesu und Gottes“ gerechnet wurden.
Um diesen Kern herum ließen sich über die Jahrhunderte immer neue Vorwände für Antisemitismus finden. Wenn Sündenböcke benötigt wurden, waren die Juden die Opfer, sie wurden missbraucht als Spielbälle zwischen weltlicher und kirchlicher Macht, konnten sich des ihnen zugesagten Schutzes nie sicher sein. Vertreibung und Pogrome immer inbegriffen. Schäfer beschreibt die Willkür in einer Klarheit und Verständlichkeit, dass einem beim Lesen der Atem stockt. Er wendet sich in seinem Buch bewusst an ein breites Publikum, doziert nicht, sondern bedient die Leser mit Fakten, mit punktgenau ausgesuchten Quellen, die kaum der Erläuterungen bedürfen und all die beschämen, die sich der zerstörenden Kraft der Antisemitismus-Entwicklung nicht bewusst waren.
Die Vernichtung der Juden, die im 19. Jahrhundert in Europa und Deutschland immer lauter proklamiert wurde und in der Shoa mit dem industriellem Morden der deutschen Nazis katastrophale Realität wurde, war seit Beginn des Antisemitismus immer mitgedacht. Sie flammte über die Jahrhunderte immer wieder auf. Ganz prominent bei Martin Luther, in dessen späten Werken Schäfer die Verteufelung und den „Aufruf zur Vernichtung der Juden“ sieht. Er zitiert den evangelischen Theologen und Luther-Forscher Thomas Kaufmann mit dem vernichtenden Urteil: „Luthers Endlösung“.
Die „Kurze Geschichte des Antisemitismus“ ist ein großes Werk, das jeder lesen muss, der sich dem heute wieder wachsendem Judenhass widersetzen möchte. Nur so kann er begreifen, dass es mit der ständigen Wiederholung von „Leerformeln“ nicht getan ist, um den jahrtausendalten Teufelskreis von „Hass auf die Juden und Angst vor den Juden“ zu durchbrechen. Eine Lösung dafür kann und will Schäfer nicht bieten. Stattdessen gibt er den Rat: „Sicher ist jedoch, dass es des Zusammenwirkens aller relevanten gesellschaftlichen Kräfte bedarf, und zwar ausdrücklich nicht nur von Institutionen, sondern auch von jedem Einzelnen. Dazu gehören selbstverständlich auch die Juden, obwohl es – ebenso selbstverständlich- nicht die primäre Aufgabe der Juden ist, den Antisemitismus zu bekämpfen, sondern die der Mehrheitsgesellschaft.“
Eine Aufgabe, die gerade in diesem Jahr, in dem an den ersten Nachweis jüdischen Lebens vor 1700 Jahren in Köln gedacht wird, eine Herausforderung ist. Damals, am 11. Dezember 321, verfügte der römische Kaiser, dass Juden in den Rat der Stadt berufen werden dürften. Eine Phase der Befreiung und des Aufwachsen jüdischen Lebens begann, war aber nicht von Dauer. Nach den Pestpogromen im 14. Jahrhundert in vielen süddeutschen und rheinischen Städten wurde auch die blühende jüdische Gemeinde aus Köln vertrieben. Die Blüte, nur eine Episode im ewigen Teufelskreis des Antisemitismus.
Peter Schäfer, Kurze Geschichte des Antisemitismus, Beck-Verlag, München, 335 Seiten, 26.95 Euro
Eine gute Rezension zu einem äußerst lesenswerten Buch zum Thema Antisemitismus von Peter Schäfer, der von 2014 bis 2019 das Jüdische Museum in Berlin leitete. Ich hatte das Glück, dort im November 2018 die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ anzuschauen. Der Katalog zu der Ausstellung ist eine echte Fundgrube für alle, die sich für die Geschichte Jerusalems, Israels und Palästinas interessieren. Die Kritik an dieser Ausstellung, auch von israelischer Seite, ist nicht nachvollziehbar. Schäfers Buch ist auch deshalb lesenswert, weil er nach der Darstellung der langen, unheilvollen Geschichte des Antisemitismus, vor allem im christlich geprägten Europa, auch die aktuelle Frage nach der Unterscheidung zwischen Antisemitismus und legitimer Israelkritik zu beantworten versucht. Denn, was wir erleben, ist paradox: Auf der einen Seite wächst der Antisemitismus, während auf der anderen Seite der Vorwurf des Antisemitismus immer häufiger benutzt wird, um legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung zu unterbinden. In der US-amerikanischen Politik ist das noch weit häufiger der Fall. Kaum ein Wahlkampf, in dem ein Kandidat nicht seine Haltung zu Israel erklären muss. Dabei hat der Präsident, der Israel die größten außenpolitischen Erfolge beschwert hat, sich wohlwollend über die antisemitische Rechte in seinem Land geäußert. Schäfers Buch ist eine wichtige Orientierung in diesen unübersichtlich gewordenen Zeiten.