War es Mark Twain, Winston Churchill oder Kurt Tucholsky? Egal, alle drei haben recht mit der Erkenntnis: „Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie in der Zukunft liegen“. Umso interessanter ist es manchmal, zurückzublicken und Entwicklungen zu beschreiben, die niemand auf der Rechnung hatte. Entwicklungen, die in diesem Fall drei Jahrzehnte zurückliegen und einen interessanten Blick auf die kommenden Landtagswahlen am 14. März in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg bieten.
Das war ein Unfall. Eine Kurzschlussreaktion. Und Helmut Kohl, der große Kanzler der Einheit war schuld, dass das schwarze Rheinland-Pfalz 1991 in die Hände der Roten fiel. Eine Betriebsstörung. Die christdemokratischen Parteifreunde waren sicher, bei den Landtagswahlen im April 91 dafür gebüßt zu haben, dass Kohl trotz aller gegenteiligen Versprechen, die gerade gewonnene Einheit nun doch mit Steuererhöhungen finanzieren wollte. „Bild“ legte den Oggersheimer Koloss als Foto quer auf der ersten Seite flach und titelte: „Der Umfaller“.
Eine Steilvorlage für die SPD und ihren Spitzenkandidaten Rudolf Scharping, die mit Kohls Steuerlüge in den letzten Wochen vor der Wahl am 21. April Stimmung in der traditionellen CDU-Hochburg machte. Dennoch war außerhalb der Landesgrenzen Skepsis angesagt, dass diese Kampagne reichen könnte, um die christdemokratische Dominanz zu kippen. Zumal Scharping selbst in der ansonsten schillernden „Enkelgeneration“ der SPD Willy Brandts eher langweilig wirkte und außerhalb der Mainzer Landesgrenzen kaum wahrgenommen wurde. Im Gegensatz zu Oskar Lafontaine, der seit Mitte der achtziger Jahre als Ministerpräsident des Saarlandes fest im Sattel saß oder auch im Vergleich zu Gerhard Schröder, der 1990 gemeinsam mit den Grünen die schwarze Hochburg Niedersachsen erobert hatte.
Aber Scharping? Als Karl-Heinz Klär, damals Abteilungsleiter Politik in der Bonner SPD-Baracke und enger Vertrauter des Rheinland-Pfälzers, sich wenige Wochen vor der Landtagswahl immer sicherer zeigte, dass der Wechsel gelingen könnte, erntete er bei den meisten journalistischen Beobachtern in der Hauptstadt eher ein müdes, gequältes Lächeln. So richtig auf dem Schirm hatten sie den SPD-Spitzenkandidaten in Mainz nicht.
Als Scharping mit der SPD dann im April 1991 knapp 45 Prozent holte, die CDU erstmals abgeschlagen auf den zweiten Platz verwies, galt das als Sensation. War es aber nicht. Sie war neben Kohls Steuerlüge in Bonn vor allem Konsequenz aus einer Zerstrittenheit des christdemokratischen Landesverbands, der sich in Jahrzehnten der Macht zerschlissen hatte. Die wahre Sensation ist, dass sich die SPD nach dieser Denkzettelwahl dreißig Jahre als Regierungspartei etablieren konnte. Dabei war Mainz von Beginn an ein Gegenmodell zur damals favorisierten rot-grünen Politikperspektive. Obwohl es auch zu einer Koalition mit den Grünen (6.5 Prozent) gereicht hätte, entschied sich Scharping für ein Bündnis mit der FDP (6.9 Prozent). Rot-gelb favorisierte auch Kurt Beck, der Scharping nach dessen Wechsel in die Bundespolitik 1994 als Ministerpräsident ablöste. Seine Popularität im Land („Nah bei de Leut“) stieg so sehr an, dass er 2006 für eine Legislaturperiode sogar die absolute Mehrheit der Mandate erzielen konnte. Nach 19 Jahren im Amt trat er im Januar 2013 zurück und übergab das Amt an Malu Dreyer.
Wenn auch nicht so radikal leiteten die Landtagswahlen 1992 in Baden-Württemberg ebenfalls eine Entwicklung ein, die die einstmals unbestritten führende Rolle CDU im „Ländle“ besiegelte, den Niedergang der SPD forcierte und Vorbote für eine Veränderung des Parteienspektrums war.
Für die CDU, die nahezu zwei Jahrzehnte allein regieren konnte, reichte es 1992 nur noch zu einer großen Koalition. Die Gründe waren auf den ersten Blick hausgemacht. Der lange als Star der Südwest-CDU gehandelte Lothar Späth, der seit 1980 dreimal die absolute Mehrheit für seine Partei gewonnen hatte, musste 1991 als Ministerpräsident wegen gesponserter Ferienreisen in der sogenannten „Traumschiffaffäre“ zurücktreten. Sein Nachfolger Erwin Teufel hatte nicht annähernd die Popularität des „Cleverle“ Späth, der Ende der achtziger Jahre gar als Gegenspieler von Kohl als CDU-Vorsitzender gehandelt worden war. Dennoch konnte sich Teufel bis 2005 in wechselnden Koalitionen als Ministerpräsident halten.
Bundesweit Aufsehen erregte die Landtagswahl in Stuttgart 1992 Wahl vor allem auch, weil die rechtsnationalen Republikaner mit knapp elf Prozent der Stimmen in den Landtag einziehen konnten. Bei so viel Aufregung um den Verlust der absoluten CDU-Mehrheit und dem sensationell hohen Stimmenanteil der Rechtspartei ging ein Aspekt nahezu unter: Das Abschneiden der Grünen. Mit 9.5 Prozent der Stimmen erreichten sie ihr bis dahin bestes Ergebnis in einem Landesparlament. Während sich die Grünen in anderen Landesparlamenten mit weit geringeren Stimmenanteilen in den 90er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Juniorpartner von Landesregierungen – wie in Hessen, Niedersachsen, NRW – sonnen konnten, wuchsen sie in Baden-Württemberg beständig in der Opposition. 2011 konnten sie dort, obwohl meilenweit hinter der CDU (39 Prozent) nur zweitstärkste Partei (24.2 Prozent), mit Winfried Kretschmann und dem Partner SPD (23.4 Prozent) erstmals einen Ministerpräsidenten stellen. Das konservative, bodenständige Profil von ihm kam im Südwesten so gut an, dass er nach fünf Jahren Amtszeit die Grünen zur stärksten Partei (30.3 Prozent) machen und die CDU (27 Prozent) zum Juniorpartner in eine große Koalition zwingen konnte. Auch deshalb, weil die FDP ein Dreierbündnis mit Grünen und SPD nicht wollte.
Im Gegensatz zu Rheinland-Pfalz, wo SPD, FDP und Grüne in einem Dreierbündnis regieren und Chancen haben, das nach dem 14. März fortsetzen zu können. Der knappe Rückblick auf drei Jahrzehnte Wahlentwicklung in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zeigt, wie wenig sich über Konstante und Umwälzung prognostizieren lässt. Wer hätte geglaubt, dass der Denkzettel von Mainz drei Jahrzehnte Bestand hat? Und wer hätte es Anfang der 90er Jahre für möglich gehalten, dass sich die Grünen ausgerechnet in der konservativen und teils rechtsnationalen Struktur Baden-Württembergs – die AFD erzielte dort 2016 mehr als 15 Prozent – durchsetzen könnten?
Bildquelle: Titelseite Ausgabe Bildzeitung vom 27.2.1991