„Es ist schon fatal“, schreibt Peter Merseburger in seiner ausgezeichneten Biographie über Willy Brandt, „wenn gerade er, der ja den größeren, nicht zu Gewalt neigenden Teil der rebellierenden Jugend in den demokratischen Prozess integrieren will, seine Unterschrift unter jenen Erlass setzt, der Andersdenkende mit beruflicher Repression droht. Wo bleibt da das große Versprechen aus der Regierungserklärung, mehr Demokratie zu wagen?“ Ja, dieser Radikalenerlass, „als Flankenschutz gegen die Volksfrontangriffe der Rechten“ gedacht, so Merseburger, gerät zur Gesinnungsschnüffelei und er kostete den Friedensnobelpreisträger und ersten SPD-Bundeskanzler „Glaubwürdigkeit bei der jungen Generation.“ Später wird Brandt dies als „kardinalen Fehler“ werten. Der Erlass trug die Unterschrift aller Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers. Er trat am 18. Februar 1972 in Kraft.
Man stelle sich das Ausmaß einmal vor: rund 3,5 Millionen Anfragen gab es beim Verfassungsschutz auf Grund dieses Erlasses. Es wurden im öffentlichen Dienst 11000 Berufsverbotsverfahren und 2200 Disziplinarverfahren gegen mutmaßliche Verfassungsfeinde eingeleitet, mindestens 1259 als linksextrem bewertete Lehrer und Hochschullehrer nicht eingestellt, rund 260 Personen entlassen. Der Erlass traf auch Postboten, Lokomotivführer, weil die ja auch Beamte waren. Das Schlagwort von den Berufsverboten traf schon den Kern des Erlasses. „Deutsche Regelungswut und juristischer Perfektionswahn“, so Merseburger, führten dazu, dass Verdächtige nicht einmal Referendare werden konnten. Von der wehrhaften Demokratie, die Staatsfeinde aus dem Staatsapparat entweder entfernen oder sie von Anfang an daraus halten wollte, war nur noch in Ansätzen die Rede. Die systematische Überprüfung stellte viele, allzuviele unter Generalverdacht und hinterließ bei einem Großteil der jüngeren Generation Misstrauen gegenüber denen da oben. Zumal sie erleben konnten, dass die Nachkriegs-Generation in Deutschland alte Nazis sehr wohl beschäftigte. Man denke an den Fall Filbinger, der immerhin Ministerpräsident von Baden-Württemberg war und in den 70er Jahren einer der Initiatoren des Radikalenerlasses, derselbe Filbinger, der in der Nazi-Zeit Marinerichter war und frühes NSDAP-Mitglied. Zählte man alle einstigen NSDAP-Mitglieder im deutschen Bundestag in den 50er Jahren zusammen, wären sie zahlenmäßig die größte Gruppe im Parlament in Bonn gewesen. Es war die Zeit des kalten Krieges, der Russe stand pausenlos vor jeder deutschen Tür, so die Propaganda der Rechten, womit sie die eigene Nazi-Vergangenheit zu verdrängen versuchten.
Einer wie der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, zählte damals zu denen, die man überprüfte. Kretschmann war als Jugendlicher eher ein maoistischer Kommunist, der später dann Mitglied der Grünen wurde und auch Mitarbeiter von Joschka Fischer war, als dieser Minister im Kabinett von Holger Börger in Hessen war. Kretschmann sieht seine politischen Anfänge als Fehler, ich meinte gelesen zu haben, dass ihn seine Frau auf den rechten, den grünen Weg gebracht habe. Der beliebte Ministerpräsident im Südwesten blickt ohne Groll auf diese Zeit zurück, obwohl er selbst in den 70er Jahren wegen des Radikalenerlasses als Referendar betroffen war und zeitweise nicht an staatlichen Schulen unterrichten durfte. Ja, der Verfassungsschutz hatte über ihn eine Akte angelegt. Kretschmann hat sich als reuiger Sünder bekannt und seine einstige Mitgliedschaft im KBW(Kommunistischer Bund Westdeutschland) als „einen der größten Irrtümer“ seines Lebens bezeichnet.
Entschuldigung und Entschädigung
Andere sehen das anders, weil sie unter der Schnüffelei der Staatsorgane gelitten haben, weil sie ihren Beruf jahrelang nicht ausüben konnten, weil sie dauernd verdächtigt wurden. Und einige von ihnen leben heute in prekären Verhältnissen, weil sie wegen der damaligen Berufsverbote eine deutliche geringere Rente erhalten, als sie sie bekommen hätten, wenn man sie hätte in dem Beruf arbeiten lassen, für den sie ausgebildet waren. Nachzulesen in „Kontext“, wo eine Irene Jung zitiert wird, die am Ende immerhin noch zwölf Jahre an einer staatlichen Schule unterrichten durfte. „Kontext“ erwähnt auch das Schicksal des Tübinger Altkommunisten und Uni-Gärtnermeisters Gerhard Bialas, “ der sechs Jahrzehnte durch den Verfassungsschutz beobachtet wurde und seit 2013 immerhin weiß, bei welchen Gelegenheiten“ man ihn beschnüffelt hatte. Oder der Fall Klaus Lipps, Sprecher der Initiativ-Gruppe 40 Jahre Radikalenerlass,“die sich für eine Entschuldigung der Politik und eine finanzielle Entschädigung der Berufsverbots-Opfer einsetzt.“
Es war die Zeit, da die Springer-Presse die Atmosphäre in Deutschland vergiftet hatte, da ein Bild-Chefredakteuer Peter Boenisch, Jahre später Sprecher des Bundeskanzlers Helmut Kohl, gegen die angeblich so kommunistisch unterwanderte aufständische Jugend anschrieb, man könnte sagen wütete, er sich selbst als Teil einer Kampfpresse sah und gegen die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr derart polemisierte, dass Boenisch später sich bei Brandt und Bahr für seine verbalen Ausfälle entschuldigte. Er selber sprach davon, zu weit gegangen zu sein. Das ehrt ihn. Sicher, die außerparlamentarische Oppositon, APO genannt, sah sich auf dem Marsch durch die Institutionen, aber es war auch viel Lärm um wenig. Denn die DKP blieb ja in der Bundesrepublik eine kleine Partei ohne größeren Einfluss. Zum Beispiel schaffte sie es im Ruhrgebiet, das sie eigentlich unterwandern wollte, gerade mal in die Stadträte von Bottrop und Hattingen. DKP-Chef Mies erntete mit seinem Satz: „Die DDR ist unser Vorbild“ mehr Gelächter als sonst was. Ja, junge Leute wurden in den Westen geschickt, um dort konspirativ tätig zu werden, teils auf eigene Kosten. Wurden sie enttarnt, war es zunächst vorbei mit dem Plan, Lehrer zu werden. Einige schafften es mit Verspätung sogar ins Rektorenamt, obwohl sie in den 70er Jahren vor dem Springer-Hochhaus in Berlin demonstriert und gerufen hatten: Enteignet Springer. „Der Radikalenerlass hat das Leben zahlreicher junger Menschen massiv beeinträchtigt“, so urteilte Ulrich Thöne, GEW-Bundesvorsitzender, „er hat ihnen Berufs- und Lebenschancen genommen.“ Die GEW fordert seit Jahren eine Rehabilitierung und eine Entschädigung der Opfer. Aus einem Erlass wurde ein Stück absurden Theaters, hat es Willy Brandt genannt und seinen Fehler und Irrtum eingestanden. 1995 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Berufsverbotspraxis als einen Verstoß gegen die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit beurteilt. Es wäre an der Zeit, dass die heutige Bundesrepublik dieses unrühmliche Kapitel aufarbeiten und die Betroffenen rehabilitieren würde.
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