Wie vor einigen Tagen bekannt wurde, soll es beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) ab März 2021 auf dem Kultursender WDR 3 unter der Woche keine festen Programmplätze für Literaturthemen mehr geben. Bereits 2020 strich der WDR den „Literaturmarathon“ auf WDR 5 aus dem Programm. Zuvor entschied der Norddeutsche Rundfunk im Mai 2020, die Literatursendung „Bücherjournal“ einzustellen. Öffentlich-rechtliche Sendeplätze für Buchthemen gingen in den vergangenen Jahren auch durch die Streichungen anderer ARD-Anstalten wie dem BR und dem SWR Fernsehen verloren.
In einer Petition, die von der Literaturkritikerin Insa Wilke initiiert wurde und die von vielen Kulturschaffenden unterzeichnet wurde, heißt es: Am vergangenen Freitag wurden wir von der Literaturredaktion – nicht von den Entscheidungsträgern – davon in Kenntnis gesetzt, dass die tägliche Buchrezension ersatzlos gestrichen werde. Neue Aufträge seien nicht zu erwarten, die Literatur werde bei WDR3 zwar noch eine Rolle spielen, aber in geringerem Umfang. Neue Formate wurden nur vage in Aussicht gestellt.
Es wurde darauf hingewiesen, dass allein durch den jetzt geplante Wegfall der Sendung „WDR3 Mosaik“ im Jahr um die 250 Bücher weniger besprochen werden. Weiter heißt es: Wer die Möglichkeiten der Vermittlung einschränkt, schadet der ganzen Branche. Der WDR predige Diversität und kulturelles Engagement, sein Handeln aber spricht eine andere Sprache. Und es wird gefragt: Erfüllt WDR3 so seinen Kulturauftrag? Will man so in der Zukunft als Kultursender bestehen? In einer Entgegnung ließ der WDR erklären, man wolle künftig die Literatursendungen zeitgemäß gestalten. Was sich hinter dieser nebulösen Formulierung verbirgt, bleibt abzuwarten. Die bisherigen Erfahrungen auch in anderen Sendern des öffentlichen Rundfunks lassen nichts Gutes erwarten. Skepsis ist angebracht.
Nicht erst während der Coronakrise hat sich gezeigt, wie wichtig Bücher für die Menschen sind: Sie vermitteln Wissen, regen Debatten an, geben Halt und Orientierung. Die Menschen brauchen das Gespräch über Literatur. Dieses zu vermitteln, zählt zum genuinen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Betroffen von den Einschränkungen sind insbesondere die „freien“ Mitarbeiter/innen, die ohnehin schon für einen Hungerlohn arbeiten und durch den Lockdown oft genug existentiell bedroht sind. Gerade in diesem Segment Einsparungen vorzunehmen, spricht für die fehlende Empathie der Entscheider/innen, die ihrerseits bestens honoriert werden. Dem Vernehmen nach erhält der Intendant des WDR Tom Buhrow 395.000 Euro an Gehalt; gebührenfinanziert.
Zum Sachverhalt selbst schreibt der Schriftsteller Michael Maar: Wie soll man es nennen, wenn ausgerechnet dieses fragile, kostbare Genre ausgedünnt oder abgeschafft werden soll? Liegt es am Kostendruck? Aber der ist lächerlich. Wenn die Literaturkritikerin, die einen 600-Seiten-Roman liest und auf drei Seiten plastisch zusammenfasst, den unbedingt zu vermeidenden Fehler beginge, anschließend ihren Stundenlohn auszurechnen, läge er weit unter allen Mindestsätzen. Was es den öffentlich-rechtlichen Sender kostet, Literatur lebendig zu halten, liegt im Promillebereich.
Zum gegenwärtigen Stand der Dinge teilte Insa Wilke mir auf meine Anfrage hin mit: Die Öffentlichkeit bezüglich der WDR-Literaturprogramme hat enorme Wirkung gezeigt, auch bei anderen Sendern. Nicht in dem Sinne, dass man verhindern kann, dass es eine Anpassung an vermeintliche Publikumsbedürfnisse gibt, sondern in dem Sinne, dass solche Änderungen nicht still und heimlich ablaufen können und man sich also „Mühe“ geben muss. WDR3 wird jetzt zeigen müssen, dass sie weiter ein ernsthaftes Literaturprogramm machen. Das ist gut. Noch besser ist, dass die Debatte grundsätzlicher geworden ist. Es gibt ja tatsächlich ein Problem mit schwindenden Hörer-Zahlen, aber man muss eben überlegen – und auch öffentlich diskutieren – wie man damit umgeht. Meine Hoffnung ist, dass das auch in der Politik gehört wird. Wir werden sehen.
Warum ist Literaturkritik wichtig?
Literaturkritik ist mehr als Literaturberichterstattung. Letztere orientiert sich vor allem an den aktuellen Bestsellern großer Verlage, die mit ihrer Werbung auf dem Büchermarkt ohnehin genügend Aufmerksamkeit finden. Die Feuilletons der meinungsbildenden Medien verstärken diesen Effekt meist noch.
Einer ernsthaften Literaturkritik geht es darum, den Stoff, den Stil und die Struktur eines Textes miteinander in Einklang zu bringen. Das ist kein einfaches Unterfangen; es erfordert einen hohen Aufwand an Zeit und Textverständnis. Insa Wilke beschreibt ihr Selbstverständnis als Literaturkritikerin wie folgt: Aufmerksamkeit für die Literatur erhalten und wecken und durch die Art, wie Literaturkritik das tut, mitwirken am Erhalt einer ästhetisch interessierten politischen Öffentlichkeit. Ein Problem sieht sie in den sich stetig verschlechternden Arbeitsbedingungen der Literaturvermittler/innen. Eine seriöse Kritik muss entsprechend honoriert werden, und sie braucht Spielraum. Wenn die Räume schrumpfen, kann kein Gespräch entstehen. Wenn kein Gespräch entsteht, wird die Kritik fad. Wenn die Kritik fad wird, fehlt eine wesentliche Vermittlungsinstanz. Das ist schlecht, denn Bücher und ihre Autorinnen und Autoren brauchen ein Gegenüber in der Öffentlichkeit, und zwar ein geschultes, geübtes und durch Widerspruch erfahrenes. Übrigens bedarf nicht nur die Literatur einer seriösen und intelligenten Kritik. Ich bin überzeugt davon, dass auch wir Leserinnen und Leser sie brauchen. Kritik, verstanden auch als nachdenkliche und genaue Lektüre. Lesen ist eine Form, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, sich in ihr zu verorten und Kräfte freizusetzen, die in individuelle Lebensläufe, aber auch in soziale Zusammenhänge wirken können.
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Kriterien für eine gelungene Literatur- und Kunstkritik lieferte der Kölner Kritiker Albrecht Fabri bereits in den 50er und 60er Jahren. An ihn sei hiermit erinnert: Er wäre am 20. Februar 2021 110 Jahre alt geworden.
Zehn Jahre lang war Fabri Dozent für französische und moderne Literatur an der Buchhändlerschule in Köln. Während dieser Zeit veröffentlichte er in verschiedenen Zeitschriften Kritiken und Essays. Im Literaturbetrieb seiner Zeit war Fabri eine Art Fremdkörper. Die ihn kannten, schätzten ihn – wie etwa Adorno. Aber es waren immer nur wenige. Adorno hätte ihn gerne an das Frankfurter Institut für Sozialforschung geholt, aber Fabri lehnte ab.
Fabri verfügte nach Auffassung des Kölner Schriftstellers Jürgen Becker über die Gabe, zentrale Fragen der Literatur und Kunst knapp formulieren zu können. Meist waren es kurze Texte: provokant; rigoros; verblüffend; polarisierend; spitzfindig – in jedem Fall aber geistreich. Man war nahezu aufgefordert, über sie nachzudenken. Ansonsten entging einem der Genuss. Es waren die Texte eines ästhetischen Moralisten – eines zum Widerspruch reizenden, charmanten Zeitgenossen.
Beispielhaft seien einige Stilproben Fabris zitiert:
Anfangen gleicht immer dem Einwerfen eines Fensters/ Ein Kritiker taugt, was er als Schriftsteller taugt/ Wer ein brennendes Haus zu löschen hat, stellt sich keine Fragen/ Geist verhält sich allergisch gegen Geranke/ Eine Seite schreiben, an der man nicht ruckeln kann/ Eine Kunstkritik ist weder ein Hammer noch eine Pervitintablette/ Malen wie Glauben setzen einen Verlust voraus/ Schreiben müsste mit Lebensgefahr verbunden sein wie Seiltanzen, dann würde anders geschrieben.
Nur in kleinen Dosen lassen sich Fabri-Texte genießen. Wie ein guter Wein, der ja auch Ehrfurcht, Staunen und Freude in uns auslöst – als Kunstwerk menschlicher Kreativität. Zum gedankenlosen Konsumieren sind seine Texte jedenfalls ungeeignet. In nahezu jedem seiner Texte ist Fabri auf eine eigentümliche Weise originell: er verhilft zu neuen, bisher so nicht gekannten Sichtweisen auf die Dinge. Er zwingt zur Reflexion. Man muss nicht alle seiner Ansichten teilen. Aber man muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Anders geht es nicht. Die Texte lassen einen nicht ruhen. Sie wirken nach. Beschäftigen einen über den Anlass hinaus weiter. In diesem Sinne ist Fabri ein überaus produktiver Unruhestifter.
Rigoros lehnt Fabri den Standpunkt ab, Literatur und Kunst seien Mittel der Weltveränderung. Ihm graut vor einer Kunst, die darauf aus ist, politische oder ideologische Botschaften in die Welt zu senden. Andere Maßstäbe als künstlerische lässt er nicht gelten. Ein Text muss durch seine Sprache bestehen; ein Bild muss durch seine Farben überzeugen. Fabri setzt sich uneingeschränkt für die Autonomie der Kunst ein. Sie kann sich nicht in den Dienst fremder Absichten stellen, ohne sich als Kunst aufzugeben. Sie kann von nichts anderem ausgehen als den ihr gegebenen Mitteln. Denn: wenn es die Inhalte immer schon gibt, wozu bedarf es da noch der Kunst? Am schlechtesten schreiben allemal die, die meinen, dass sie etwas zu sagen haben. Der Grund? Sie sind nicht bei der Sache. Die Sache nämlich ist das Wort, die Sprache, nichts sonst.
Die zuweilen überaus subtilen Differenzierungen Fabris sind als Anregungen zu lesen, das eigene ästhetische Urteilsvermögen zu schärfen. Liest man sie so – und nicht etwa als absichtsvolle Spitzfindigkeit – sind sie unerhört inspirierend. Sie laden fast immer zum Widerspruch ein und sind eben gerade dadurch ein Ansporn, selbst weiterzudenken. Fabri stellt hohe Ansprüche, wenn er beispielsweise Kriterien für Kritikfähigkeit entwickelt. Maßstab, nach dem ein Kunstwerk zu beurteilen ist, kann jeweils nur das Kunstwerk selbst sein. Vollkommen oder unvollkommen ist ein Kunstwerk nicht in Bezug auf ein externes Muster, sondern in sich. Kritik die schielt, verfährt notwendigerweise nach der Methode des Prokrustes. Sie spannt das Kunstwerk auf ein Bett von Forderungen, denen zu genügen es nicht dieses, sondern ein anderes Kunstwerk sein müsste. Wer verlangt, Peter Handke möge wie Thomas Mann schreiben, weil dieser der vollkommene Romanschreiber ist, geht schon von vornherein in die Irre mit seiner Kritik. Auf diese Weise vergleicht man Äpfel mit Birnen.
Eine Kritik, die so verfährt, nennt Fabri eine zerstörende Kritik. Dagegen fragt eine produktive Kritik danach, was ein Künstler sich vorgenommen hat und ob er seinem Vorsatz gerecht geworden ist.
In einem berühmten Essay über Karl Kraus formuliert Fabri weitere Aspekte seiner Auffassung von Literaturkritik. Er bezeichnete Karl Kraus als einen Literaten, dem es allein um die Sprache gegangen sei. Seine Methode bestand darin, das Wort beim Wort zu nehmen. In strikter Beschränkung auf das dem Schriftsteller zu eigen gegebene Material dachte er in, mit und aus der Sprache. Kraus selbst sagt: Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht in Worte fassen könnte, in Worte gefaßt. Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens. Kraus bewegte sich mit dieser Art Schriftstellerreligion auf den Spuren Konfuzius’. Als dieser gefragt wurde, was er als erstes unternehmen würde, wenn man ihm die Regierung anvertrauen würde, antwortete er: Die Richtigstellung der Begriffe. Stimmen die Begriffe nicht, stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, stimmen die Werke nicht.
Fabri hat viele der künstlerischen Größen seiner Zeit einer rigorosen Kritik unterworfen. Z.B. Künstler, die Wert darauf legten, Kunst einer außerkünstlerischen Instanz zu unterstellen.
Brecht war für ihn ein solcher Fall. Brecht sei ohne Zweifel ein bedeutender Dichter gewesen – aber nur dort, wo er darauf verzichtet, seine Leser darüber zu belehren, wie sie handeln sollen. Das tut er vor allem in einem Teil seiner Lehrgedichte. In diesen verabreiche er gewissermaßen Rezepte für gelungene oder missratene Menüs – schreibe mithin im Stile von Kochbüchern.
Ein Dichter, und zwar einer von hohen Graden, sei Brecht hingegen in Gedichten wie der Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration gewesen– einem Gedicht, das weitgehend auf eine politische oder programmatische Botschaft verzichte.
Immer wieder betont Fabri, ein Schriftsteller lasse sich nur von seiner Sprache her kritisieren. Wer den Thomas Mann des Zauberbergs dafür kritisiere, dass die Bahn des objektiven Geistes nicht durch seine Brust gehe oder: dass er kein Prophet sei oder: dass sein Hans Castorp nicht mehr als ein Dauergymnasiast sei oder dass der siebenjährige Disput zwischen Naphta und Settembrini keine Fortschritte zeitige – verfehle den Gegenstand. Diese Art Kritik sei nicht viel mehr als Geschwätz, weil sie in viel zu platter Weise wahr sei. Dann könne man an der Mona Lisa auch kritisieren, dass sie zu dick sei. Das hieße: Das idealtypische Frauenbild einer Epoche zum Maßstab der Kritik machen.
Gleichwohl kritisiert Fabri den Stil so mancher Sätze Thomas Manns. Sie nicht zu bewundern, müsste man ein Barbar sein; aber er fordert den Leser auf, sich einige der Sätze Thomas Manns einmal laut vorzulesen: der Rhythmus, der Tonfall, die Zäsuren – alles an ihnen sei irgendwie vollkommen. Und doch seien diese Sätze oft grammatikalische Monstren. Sie hätten manchmal etwas Reißendes. Die Sätze schießen oft wild ins Kraut. Sie haben etwas Bewegendes, aber keine Ordnung. Das scheint mir überhaupt das Merkmal dieser Sätze: sie erschöpfen sich darin, die Satzbestandteile herauszuarbeiten. Der Satz selber spielt dem gegenüber nur mehr die Rolle eines notwendigen Übels. Die meisten Sätze Thomas Manns gleichen regellos sich auftürmenden Geschieben; allem Raffinement der Konstruktion zum Trotz, verraten sie ein tiefes Unvermögen zur Konstruktion. Und doch sind diese Geschiebe großartig.
Man muss die Kritiken Fabris nicht umstandslos teilen. Aber sich ihrer zwingenden Logik entziehen, wird einem kaum gelingen. In einigen seiner Kritiken entwickelt Fabri eine Art Dialog: wägt das Pro und Contra ab und rät, den Dialog selbst fortzusetzen. Hüten Sie sich nur, eine der beiden Stimmen zu bevorzugen. Halten Sie These und Antithese immer wieder in der Schwebe. Die eine auf Kosten der anderen zum Schweigen zu bringen, würde Sie nur arm machen. Fabri neu zu entdecken, kann überaus anregend sein. Er liest sich frisch und aktuell wie eh und je. Sein Credo könnte gerade in diesen unruhigen Zeiten, die zum Innehalten gemahnen, lauten: lesen, lesen, lesen Sie selbst! Und lassen Sie sich dazu von guter Literaturkritik anregen.
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