Ein kluger Mensch hat zu Auschwitz mal gesagt, um zu verstehen, was der normale Mensch nicht verstehen kann: Es geht darum, das Unbegreifliche begreifbar zu machen. Er meinte Auschwitz und damit die Erinnerung an die systematische Ermordung von Millionen Juden. Getötet, erschlagen, erschossen, vergast, verhungert, weil sie Juden waren. Weil die Juden-Vernichtung zur Rassen-Ideologie der Nazis gehörte. Ein Menschheitsverbrechen. Unvorstellbar für mich, der ich als Journalist und Bonner Korrespondent der WAZ und später der Augsburger Allgemeinen in Auschwitz war. Ich durfte Bundespräsident Richard von Weizsäcker begleiten zur Gedenkstätte des einstigen KZ Theresienstadt, auf einer anderen Reise habe ich Maydanek besichtigt, Treblinka, Mauthausen. Orte der Schreckensherrschaft der Nazis. Und jedes Mal, wenn ich durch diese Gedenkstätten ging und mir die Fotos anschaute und die Texte dazu las, stockte mir der Atem. Ich hatte einen Kloß im Hals, war sprachlos. Und ich verstand, was Überlebende dieses unheimlichen Verbrechens berichtet hatten, in dem sie gefangengehalten und gequält, geschlagen, terrorisiert wurden, in dem sie beobachten mussten, wie Menschen getötet wurden, die nichts verbrochen hatten: „Es war die Hölle“.
Seit 1996 ist der 27. Januar Holocaust-Gedenktag, vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog proklamiert. Der 27. Januar ist zugleich der Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Auschwitz im tiefen Süden von Polen, unweit der schönen Stadt Krakau gelegen, von der Roten Armee befreit wurde. An diesem 27. Januar wird weltweit der Millionen Opfer der Nazi-Diktatur gedacht: Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, Männer und Frauen des Widerstands, Wissenschaftler, Künstler und Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure, Greise und Kinder, Zwangsarbeiter und Millionen Menschen, die unter der Nazi-Herrschaft entrechtet, verfolgt und ermordet wurden. Auschwitz-Birkenau war das größte Vernichtungslager, allein hier wurden bis zu 1,6 Millionen Menschen, zumeist Juden, Männer, Frauen und Kinder umgebracht, vergast, getötet. Auschwitz ist das Synonym für diesen Völkermord, begangen von Deutschen, die mal als ein vorbildliches Kulturvolk galten, als ein Volk der Dichter und Denker wie Schiller und Goethe, aus dem dann das Land der Richter und Henker wie Hitler, Himmler und Hans Frank wurde. Ein Abstieg in einen Schlund, tiefer geht es nicht. Wer Auschwitz sieht, schämt sich als Deutscher für die Taten der Deutschen.
Willy Brandt fiel in Warschau auf die Knie
„Wir ringen um Worte, wenn wir das Ausmaß des Grauens beschreiben wollen“, hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im letzten Jahr anläßlich des 75. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz formuliert. „Man kann das kaum in Worte fassen, was in einem vorgeht, wenn man über den 27. Januar nachdenkt, darüber, was Nazi-Deutschland den Juden angetan hat.“ Sagt einer wie Rudolf Dressler, der SPD-Politiker, der ein paar Jahre Botschafter in Israel war und diesen Tag dort erlebte, wo für einen Augenblick das Leben im ganzen Land still steht. „Man sollte auch besser schweigen.“ Schweigend bin ich Stunde um Stunde durch das einstige KZ Auschwitz-Birkenau gelaufen, es war am 2. September 1989. Am Tag zuvor hatte Johannes Rau, Ministerpräsident von NRW, aus Anlaß des Beginns des Zweiten Weltkriegs vor damals 50 Jahren eine kleine Rede gehalten in Polen, er hatte einen Kranz niedergelegt und eine Zeitlang geschwiegen. Am 1. September 1939 hatte Nazi-Deutschland Polen überfallen, ein Dorf dicht hinter der Grenze platt gemacht durch die Bomben aus deutschen Flugzeugen, am 1. September 1939 hatten die Deutschen die Westerplattte in Danzig beschossen. Es war der Beginn des Krieges, der mindestens 55 bis 60 Millionen Menschen das Leben kostete. Es war Willy Brandt, der SPD-Bundeskanzler, der 1970 bei der Kranzniederlegung am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos auf die Knie fiel, um um Vergebung für die deutschen Verbrechen des 2. Weltkriegs zu bitten. Ausgerechnet einer wie Willy Brandt, der selbst vor den Nazis ins Ausland flüchten musste, was ihm die Konservativen daheim später verübelten. Sie hätten besser geschwiegen.
Auschwitz, die Todesfabrik, errichtet allein, um Menschen zu töten. Mit Gas, Zyklon B, made in Germany. Wer Auschwitz besucht, wie ich das zweimal getan habe, sieht die Reste von Kindern, Greisen, Frauen, sieht Haare, die man ihnen abgeschnitten hatte, ihre Brillen, Schuhe, Koffer. Grauenhaft. Wer tut so was? Warum? Was hat er davon? Diese Ermordung der Millionen Juden wude systematisch vorgenommen, konsequent betrieben, bürokratisch organisiert und industriell durchgeführt. Quasi eine Massen-Produktion der Vernichtung. Dazu brauchte man die Todesöfen. Wer nach Auschwitz kam, überlebte nur, wenn er kräftig genug war, um dort im Steinbruch zu arbeiten. Und wenn die Nazis keine Arbeit hatten, ließen sie ihre Opfer schwere Steine einfach von einem Ort zum anderen schleppen und notfalls wieder zurück. Sinnlose Arbeit, nur dazu da, den anderen zu quälen, ihn fertig zu machen. Und wenn der nicht mehr konnte, wurde er erschlagen, erschossen, in eine Grube geworfen. Wie ein Tier.
Als die russischen Soldaten das Lager des KZ betraten am 27. Januar 1945, wurden sie von den Häftlingen wie Lebensretter begrüßt. „Die Russen, die Russen“, riefen die total erschöpften, völlig ausgemergelten Gestalten, die bis aufs Skelett abgemagert waren, deren Augen durch die Höllenqualen, die sie erlitten hatten, so tief lagen, als seien sie nach hinten gerutscht. Ich beschreibe das bewusst in dieser Deutlichkeit, weil es niemand glaubt, der die Bilder nicht gesehen, die Erzählungen der russischen Soldaten nicht gelesen hat. Bergeweise lagen Leichen herum, neben und auf den Pritschen, fast gestapelt. Nur 9000 hatten überlebt. Die Befreier selber brachen angesichts dieser armen Teufel fast zusamnen, einige mussten sich übergeben. Eine Viertelmillion Häftlinge hatten die SS-Bewacher von Auschwitz zuvor mit auf die berüchtigten Todesmärsche mitgenommen, die nur wenige von ihnen überlebten. Wer zu schwach war und zu Boden sank, wurde einfach abgeknallt, andere starben, weil sie erfroren, andere verhungerten.
Primo Levi war Häftling Nr. 174517
Primo Levi, ein italienischer Schriftsteller und Chemiker, hat den Holocaust überlebt. In seinem autobiografischen Werk „Ist das ein Mensch?“ hat er seine Erfahrungen in Auschwitz festgehalten. Levi beschreibt, was es hieß, seiner Identität beraubt zu werden. „Wir sind in der Tiefe angekommen. Noch tiefer geht es nicht. Nichts ist mehr unser: Man hat uns die Kleidung, die Schuhe und selbst die Haare genommen; auch den Namen wird man uns nehmen.“ Levi hatte zu lernen, dass er „Häftling Nr. 174517 war, die Nummer war auf seinen rechten Arm tätowiert. Andere berichten von dem Arzt Dr. Mengele, der hier seine Versuche an Juden machte, die als Krüppel oder gar nicht überlebten. Mengele habe an der Rampe gestanden und sich seine Opfer ausgesucht. Wenn er den Daumen nach rechts richtete, hieß das Zwangsarbeit, zeigte der Daumen nach links, bedeutete das den Tod. Übrigens verdienten die Nazis in Auschwitz Millionen durch die Zwangs-Arbeit der Häftlinge. Wie übrigens auch viele der Industriellen, die Hitler einst den Wahlkampf finanziert hatten.
Andere Überlebende schilderten, wie sie von ihren Bewachern gedemütigt wurden. Man setzte den Häftlingen irgendwelche Suppen vor, die sie mit bloßen Händen ohne einen Löffel essen mussten. Wie die Tiere habe man sich auf die Becher gestürzt, weil man hungrig war und durstig. Ein anderer Häftling, Chaim Herzog, notierte in seinem letzten Brief an Frau und Tochter: „Dantes Inferno ist geradezu lächerlich, verglichen mit dem wirklichen hier.“ Der Brief wurde im Februar 1945 unter der menschlichen Asche neben einem Krematorium in Auschwitz entdeckt. Wie der Historiker Heinrich August Winkler schreibt: „Eine Stimme aus der Gaskammer.“
Die Alliierten wussten von Auschwitz, von der Mord-Industrie, es gab Pläne, das KZ zu bombardieren, die aber Absichten blieben. „Es besteht kein Zweifel, dasss es sich um das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen der ganzen Weltgeschiche handelt“, schrieb Winston Churchill im Juli 1944 an seinen Außenminister Anthony Eden. Ein Verbrechen, „das von angeblich zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und eines führenden Volkes von Europa mit wissenschaftlichen Mitteln verübt wird“. Auch die Kirchen wussten vom Völkermord an den Juden, doch der damalige Papst Pius XII hielt sich mit öffentlicher Kritik zurück, weil er fürchtete, die Nazis würden sonst härter mit seiner Kirche umspringen. Dabei landeten auch Priester in KZs. Auch viele „normale“ Deutsche wussten mehr, als sie später zugaben. Aber sie schauten weg, wenn der Nachbar, der ein Jude war, abgeholt wurde von der Gestapo. Manche schwiegen aus Angst, andere profitierten davon, wenn Häuser, Wohnungen und Geschäfte den Juden abgenommen und arisiert wurden.
Erst im Frühjahr 1945, als die Niederlage des deutschen Reiches jedem klar wurde und am Zusammenbruch des NS-Regimes kein Zweifel mehr bestand, „begannen viele derer, die bisher an Hitler geglaubt, ja ihn wie einen Gott verehrt hatten, sich als seine Opfer zu fühlen.“ So der Historiker Winkler in seinem Urteil, er zitiert einen Bericht des Sicherheitsdienstes, SD genannt, um die blinde Hitler-Gefolgschaft vieler Deutscher zu belegen: „Der Führer wurde uns von Gott gesandt, aber nicht um Deutschland zu retten, sondern um Deutschland zu verderben. Die Vorsehung hat beschlossen, das deutsche Volk zu vernichten, und Hitler ist der Vollstrecker dieses Willens.“Welch ein Wahn!
Max Mannheimer: Ich kann nicht hassen
Am 27. Januar 2000 hielt der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel auf Einladung von Bundespräsident Johannes Rau im Reichstag eine Rede. Wiesel war selber einer der wenigen Überlebenden des Holocaust, er hat Auschwitz überlebt und wurde im April im KZ Buchenwald von den Amerikanern befreit, andere Mitglieder seiner Familie wurden von den Nazis umgebracht. Wiesel beschreibt die Zeit, die schrecklichen Jahre, die der sogenannten Endlösung der Juden-Frage, so Hitler und Himmler, vorausgingen, die, wenn man so will, zur Vernichtung hinführten. Er erinnerte an die Nürnberger Gesetze, die judenfeindlichen Verordnungen, die Kristallnacht( also die Reichspogromnacht), die öffentliche Demütigung stolzer jüdischer Bürger, darunter auch tapferer Frontkämpfer aus dem 1. Weltkrieg, die ersten Konzentrationslager, die vor den Augen der anderen Deutschen errichtet wurden, die Euthanasie deutscher Bürger, die Wannseekonferenz mit Eichmann und Heydrich, auf der die höchsten deutschen Beamten des Landes den Wahnsinn hatten, die Gültigkeit, Legalität und Methoden der Vernichtung eines ganzen Volkes zu diskutieren- bei einem französischen Cognac, wie man in der Ausstellung im Haus der Wannseekonferenz Eichmann schildern hört. Wiesel fuhr fort mit der Aufzählung: „Und dann natürlich Dachau, Auschwitz, Maydanek, Sobibor. Diese Namen, Wahrzeichen, Flaggen, schwarze Flaggen, der Welt zur Erinnerung an die Welt, die damals war“. Und Elie Wiesel fragt: „Was hat sie ermöglicht? Wie soll man den Hass und Tod begreifen, der in diesem Land herrschte?“ Wie konnten „intelligente Männer, ausgebildet an den besten Universitäten und aus gutem Hause sich so vom Bösen verführen lassen, um Juden zu quälen und zu töten, die sie noch nie gesehen hatten?“ Ihre „Geburtsurkunde war de facto ihr Todesurteil. Haben sich ihre Henker wirklich stark und heldenhaft gefühlt, indem sie wehrlose Kinder mordeten? Waren die Mörder überhaupt Menschen? Und wo endet Menschlichkeit?“
1,5 Millionen Kinder wurden von den Nazis umgebracht, schildert Wiesel. Und er beschreibt, wie betrunkene Deutsche Kinder geköpft hätten, erst das eine, dann das andere, danach die Mutter, die sich an die Kinder geklammet hätte, um sie festzuhalten, sie zu schützen, am Ende töteten sie auch den Vater. Die Deutschen hätten ihren Spaß daran gehabt. Elie Wiesel, der Zeitzeuge, erinnert sich im Berliner Reichstag an die Schrecken und Gräuel, die er erleben musste, er vergisst nicht, auf das andere, das heutige Deutschland hinzuweisen, das demokratische Land, das anders sei als Hitler-Deutschland gewesen war. Wer diesen Elie Wiesel je erlebt hat, ist von seiner Persönlichkeit tief beeindruckt. „Wenn ich sagen soll, woran ich mich erinnere, dann zittere ich.“ Sagt er. 1,5 Millionen Kinder getötet, weil sie Juden waren. Wenn er alle Namen aufsagen würde, die Moischele, die Jankele, „ich stünde Monate und Jahre hier“. Sagt der Friedensnobelpreisträger und Hochschullehrer, der zugibt, dass er trotz allem nicht hassen kann. Da ist er wie Max Mannheimer, auch ein Überlebender des Holocaust, der zu Schülern gesagt hat: „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht wieder geschieht“. So ähnlich sieht es auch Elie Wiesel, der sich dagegen aussprach, dass es einen Schlussstrich geben müsse. „Wer die Erinnerung an die Opfer verdunkelt, der tötet sie ein zweites Mal.“ Jahre später besucht Elie Wiesel mit US-Präsident Barack Obama und der Bundeskanzlerin Angela Merkel die Gedenkstätte Buchenwald, unweit der Stadt Weimar. Seine Befreiung lag damals 65 Jahre zurück. Der Schrecken vergehe nicht, räumte er ein und fügte hinzu: „Erinnerung ist die Pflicht von guten Menschen.“
„Nie, nie wieder“, hat ‚Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Versprechen abgegeben, fast wie ein Schwur. Nie wieder dürfe das passieren. Steinmeier hat dieses Versprechen in Yad Vashem wiederholt. Deutschland werde seiner Verantwortung gerecht werden. Nie wieder, das heißt auch, sich einzumischen und Antisemitismus und Hass und Hetze entgegenzutreten. Zivilcourage zeigen und sich nicht abwenden.
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