„Nüchtern betrachtet“ ist der Titel einer Geschichte über Nüchternheit, ja, und die vielen Gewohnheiten, mit dem Alkohol umzugehen. Ich las sie auf der Seite „Gesellschaft“ im Berliner Tagesspiegel am Sonntag. So was wird gern zu Anfang des Jahres geschrieben, wenn viele Menschen irgendwelche Vorsätze gefasst haben. Nach dem Motto: Weniger Alkohol trinken oder gar keinen mehr, endlich mit dem Joggen anzufangen, überhaupt etwas gegen das Übergewicht zu tun, das man sich seit Jahr und Tag- ist in der Mehrzahl zu verstehen- angelegt hat, gemeint durch Essen und Trinken und wenig Bewegung. Und ich lese und höre, wofür ein Gläschen Bier zum Beispiel alles gut sein soll. Da empfiehlt der ehemalige Weltklasse-Skispringer Sven Hannawald während der Fernsehübertragung des Skispringens aus Innsbruck, wo Hannawald als Co-Kommentator und Experte fungiert, dem ein wenig gefrusteten Trainer der deutschen Springer, man könnte doch den Jungs mal am Abend ein kleines Glas Bier genehmigen. Der Trainer, der Österreicher Stefan Horngacher, zögert mit der Antwort, weil der Vorschlag wohl ein wenig aus der Rolle fällt. Ausgerechnet für Spitzensportler mitten in der Vierschanzentournee ein Bier? Ich habe das so verstanden, dass die Jungs, also die Springer ein wenig entspannen sollen, nicht so verspannt auf die Tournee schauen, ein Bier gegen den Frust, weil sie nicht an der Spitze liegen. Was möglich gewesen wäre. Sie sollen sich ja nicht besaufen.
Ein Bier nach Feierabend, oder einen Calvados oder ein Gläschen Wein, wer kennt das nicht? Nur so zum Abschütteln der Arbeit des Tages, des möglichen Ärgers mit einem Kollegen oder mit dem Chef. Dagegen ist ja nichts zu sagen. Ich kenne Freunde, die haben das eine Weile so gehandhabt, dass sie gegen Ende des Tages einen Calvados zu sich nahmen. Sie nannten das dann: Energiegespräch. Die Gläser und die dazu gehörende Flasche mit dem edlen Schnaps standen in einem Leitz-Ordner(inmitten von Büchern) mit der Aufschrift: Hochleistungs-Schmierstoffe und darunter: A- Z. Von anderen Kollegen weiß ich, dass sie sich ein sogenanntes Stützbier genehmigten. In Maßen versteht sich, was nicht heißt in Liter-Krügen. Ein Glas, damit die Stimmung sich hebt. Kein Besäufnis. Diesen Brauch gibt es in manchen Büros, es gibt aber auch ein Alkoholverbot am Arbeitsplatz. Der Verwaltungschef einer Firma formulierte dazu den Text, der an alle Beschäftigten ging. „Das Verbringen von Alkohol in die Büros ist verboten.“ So klingt Amtsdeutsch.
Überall in der Welt wird zur Geburt getrunken, zur Beerdigung, zum Aufstieg eines Sportvereins, zum Examen, gegen Niederlagen soll Alkohol auch seine Wirkung haben. Worüber man trefflich streiten kann. Aber der Mensch ist ja erfinderisch und das gilt auch für Ausreden und Gründe. Wer bei solchen Anlässen aber zum Mineralwasser greift, läuft Gefahr, schief angeschaut zu werden, ja er muss sich die Frage von seinem Chef gefallen lassen: Schmeckt es Ihnen nicht in unserer Gesellschaft? Der Chef war der Einlader.
Mir ging es vor Jahrzehnten ähnlich. Ich hatte den Vorsatz gefasst, im Januar keinen Alkohol zu trinken. Als ich dann bei bestimmten Anlässen auf den gereichten Wein und das Bier verzichtete, wurde ich gefragt, ob ich krank sei. Es hatte sich noch nicht herumgesprochen, dass ich Wasser Alkohol vorziehe- einen Monat lang. Ein guter Freund hatte mir von seiner Wasser-Kur erzählt, ich habe sie übernommen. Meine Frau hält es genauso. Ein anderer Freund fragte mich, warum ich im Januar auf Alkohol verzichte und nicht in der Fastenzeit. Er fügte hinzu, Du bist doch Katholik, für die gilt die Fastenzeit. Meine Antwort lautete: „Mir reichen die 31 Tage zu Jahresbeginn, die Fastenzeit hat aber 40 Tage.“ So ist es geblieben bis heute. Wir trinken noch ein Glas Sekt, um das neue Jahr zu begrüßen und am nächsten Tag beginnt die Wasser-Zeit. Gesundheitlich sei das sehr gut, erklärte mir später mal ein Arzt, der mir riet: Besser wäre ein halbes Jahr. Na, ja, man muss ja nicht gleich übertreiben. Zumal der Arzt mir bestätigte, dass der Verzicht auf Alkohol gut für die Leber sei, die Nieren, überhaupt für den ganzen Körper. Man entschlacke, nehme ab, schlafe ruhiger. Tatsächlich nehme ich in jedem Januar ein paar Kilos ab, die ich im Dezember durch zuviele Weihnachtsplätzchen und den einen oder anderen Rot- und Weißwein zugenommen habe. Und natürlich gibt es von Wasser keinen dicken Kopf.
Zurück zum Tagesspiegel: Dort lese ich von einem Aufruf des britischen Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2014: „Dry January“, lautete der Aufruf,dem inzwischen vier Millionen Menschen gefolgt seien. In Australien gebe es den „Sober October“, es fehlt der Hinweis, wieviele der Australier für einen Monat dem Alkohol abschwörten. Und damit kommen wir zu grundsätzlichen Fragen: Was ist eigentlich normaler Alkoholkonsum? Ich kenne einen Freund, der schon nach einem Glas Bier Kopfschmerzen bekommt, der trinkt so gut wie nie. Folgt man dem Bundesgesundheitsministerium, trinken Deutsche jährlich zehn Liter reinen Alkohol pro Kopf, Kinder und Alte mitgerechnet. Das ist mehr als das Doppelte des weltweiten Durchschnitts, aber weniger als vor 40 Jahren. Immerhin. Was wir daraus lernen? An anderer Stelle erfahre ich aus dieser Zeitung, dass als mäßiger Konsum bei Frauen 0,1 Liter Wein täglich gilt. Was vertretbar sei, aber nicht ganz unschädlich. Dass Alkohol sämtliche Organe schädigen kann, muss man eigentlich nicht erwähnen. Ich habe schon von den Aussagen meines Hausarztes berichtet.
Aufschlussreich die Erkenntnisse der WHO: Demnach ist alkoholabhängig, wer nicht in der Lage ist, seinen Alkoholgenuss willentlich zu steuern. Die Grenze, an der der Genuß aufhöre und die Sucht anfange, sei dabei fließend. So der Tagesspiegel. Der dann noch seine Leser auf das englische Online-Programm aufmerksam macht: „One Year no Beer.“ Der Verein habe 70000 Mitglieder, was bei einer Weltbevölkerung von mehr als 7.6 Milliarden und auch angesichts von 67 Millionen Briten nicht viel ist. Teilnehmer des Online-Klubs lernten, ihre Bezierung zum Alkohol zu verbessern und von dem Brauch abzugehen: „Die Sonne geht unter, ich brauche einen Drink.“ Ich kenne nur den Spruch mit einem bestimmten Whiskey. Aber im Gegensatz zu den Anonymen Alkoholikern geht es bei „One Year no Beer“ nicht um den kompletten Verzicht. Viele loteten für ein oder mehrere Monate aus, inwieweit sie ohne Alkohol verzichten können.
Nüchtern betrachtet. Diesen Titel hätte man vor rund 30 Jahren einer Debatte im Bundestag über die Probleme mit dem Alkohol geben können. Sie fand bezeichnenderweise im „Wasserwerk“ statt. So hieß das Übergangsquartier, als der alte Plenarsaal abgerissen und ein neuer gebaut wurde. Was nicht bedeutete, dass die Damen und Herren nur Wasser getrunken hätten. Der Plenarsaal war gut besucht, voll war er nicht.
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