Als im September im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ein verheerendes Feuer wütete, war das Entsetzen groß. Nicht einmal vier Monate später sind die Überlebensbedingungen für die verzweifelten Menschen schlechter als zuvor; doch das Wegsehen und Verdrängen funktioniert wie eh und je. Ein unerträglicher Skandal.
Weihnachtsappell aus dem Bundestag
245 Bundestagsabgeordnete haben einen ungewöhnlichen Appell gestartet, um die europäische Schande dem Vergessen zu entreißen. Zu Weihnachten, so mögen sie gedacht haben, sind die Herzen weit, und das Elend der anderen rührt zu Mitgefühl und Handeln. Doch der Weihnachtsappell, den Parlamentarier*innen aus den Fraktionen von Union und SPD, Grünen, Linken und FDP gemeinsam verfasst haben, verhallt weitgehend ungehört.
Von der Bundesregierung fordern sie, dass sie sich auf EU-Ebene verstärkt für eine europäische Lösung einsetzt, die menschen- und europarechtlichen Standards entspricht. Der Bundesinnenminister müsse „gemeinsam mit aufnahmebereiten Ländern und Kommunen einen konstruktiven Weg für die zukünftige Aufnahme von Geflüchteten anstoßen und vorantreiben – auch über das bereits zugesagte Kontingent hinaus“.
„Gerade in dieser Jahreszeit“ müsse die Bundesregierung „die verstärkte Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland beschleunigen und sich gegenüber weiteren EU-Mitgliedsstaaten dafür einsetzen, dass sie Schutzsuchende freiwillig aufnehmen“, heißt es in der Fassung des Aufrufs, die auf der Homepage des nordrhein-westfälischen Bundestagsabgeordneten René Röspel als einem der Mitunterzeichner veröffentlicht ist.
Neue Lager nicht winterfest
Schon vor dem Brand in der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 war Moria „über Jahre zum Symbol des Versagens europäischer Asylpolitik geworden“, erinnern die Abgeordneten. „Zeitweise mussten über 20.000 Menschen in einem Camp ausharren, das für 3.000 Menschen ausgerichtet war. Die Versorgungs- und Hygienesituation war katastrophal.“ Auch Weihnachten müssen die Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen auf den griechischen Inseln oder auf dem Festland verbringen.
„Die humanitäre Situation im neuen Übergangslager Kara Tepe ist laut übereinstimmenden Berichten von Menschenrechtsorganisationen deutlich schlechter als im Camp Moria: Die Unterkünfte sind nicht winterfest, immer noch gibt es keine ausreichende sanitäre Versorgung – Duschen und Toiletten fehlen vielfach. Gewaltsame Übergriffe auch gegen besonders Schutzbedürftige sind an der Tagesordnung. Unter diesen Bedingungen leiden besonders die vielen Kinder“, beklagt der Appell.
Mehr als 200 deutsche Städte wollen helfen
Die Initiator*innen erinnern daran, dass über 200 Kommunen sowie einzelne Bundesländer in Deutschland zugesagt habe, zusätzliche Geflüchtete aufzunehmen. „Diese Zusagen übersteigen die vom Bund koordinierte Aufnahme deutlich. Wir sehen die Bundesregierung in der Pflicht, den Kommunen und Ländern, die eine menschenrechtswürdige Unterbringung ermöglichen können und wollen, eine Zusage für die Aufnahme zu erteilen.“
Die begrüßenswerten Aufnahmen der Bundesregierung reichten nicht aus, stellen die Mitglieder des Bundestages fest und fordern die Bundesregierung auf, „sich für die Einhaltung menschen- und europarechtlicher Standards einzusetzen, die Aufnahme Geflüchteter von den griechischen Inseln in Deutschland zu beschleunigen und die Zusagen angesichts der Aufnahmebereitschaft in Bundesländern, Städten und Gemeinden zu erhöhen“.
Ihnen sei bewusst, schreiben die Abgeordneten, dass nur ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, das von echter europäischer Solidarität geprägt ist, die Asyl- und Migrationsfrage langfristig lösen kann. „Diese europäische Lösung ist jedoch immer noch nicht in Sicht“, bedauern die Vertreter*innen von Regierungs- und Oppositionsfraktionen übereinstimmend. Sie legen damit auch den Finger in die Wunde der deutschen Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union.
Ratspräsidentschaft erzielte keine Fortschritte
Der sechsmonatige Vorsitz endet in wenigen Tagen, und bei der gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik hat die Regierung Merkel nichts vorzuweisen. Sie hat keine Fortschritte für ein neues Asyl- und Migrationspaket erreicht und überlässt es Portugal, das die Ratspräsidentschaft im Januar übernimmt, die seit Jahren währende Blockade zu überwinden.
Es ist ein Kernthema der europäischen Solidarität und zugleich das bitterste Armutszeugnis der Gemeinschaft. Vor wenigen Tagen erst hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Ungarn mit seinen Asylregeln gegen EU-Recht verstößt und insbesondere die rechtswidrige Inhaftierung von Schutzbedürftigen verurteilt. Es sei unzulässig, dass Ungarn illegal im Land befindliche Migranten abschiebe, ohne den Einzelfall zu prüfen, befand das höchste EU-Gericht.
Der EuGH entsprach damit weitgehend einer Klage der EU-Kommission; die allerdings zeichnet sich in der Flüchtlingspolitik selbst durch eine Haltung von Abwehr und Abschottung aus. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat am vierten Advent den Einsatz der Kirche für Geflüchtete auf dem Mittelmeer verteidigt. Man könne über Migration und Flüchtlingspolitik streiten, „aber man kann diese Menschen nicht ertrinken lassen“, sagte Bedford-Strohm in einem digitalen Gottesdienst aus Berlin-Neukölln. Er forderte die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf, dafür zu sorgen, dass die zivile Seenotrettung im Mittelmeer nicht weiter behindert werde.
Geflüchtete schreiben eindringlichen Brief
Für EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist der beschämende Stillstand, der tausende Menschen in Elend und Lebensgefahr drängt, der wohl größte Makel in ihrer Bilanz nach gut einem Jahr im Amt. Nun erhält auch sie Post, die aufrütteln und endlich menschenwürdige Politik ermöglichen soll. Mit einem Weihnachtsbrief wenden sich die Geflüchteten selbst an die europäische Öffentlichkeit.
„Selbst Tiere haben in der EU mehr Rechte und bessere Lebensbedingungen als wir. Jeden Tag leben wir in Angst und Not“, zitiert der SWR aus dem Schreiben. Wer krank sei, müsse mehrere Stunden in der Kälte auf eine medizinische Behandlung warten, es fehle immer noch an Heizung, Strom, Wasser und Schutz vor Überschwemmungen, berichten die Menschen. Von der Leyens EU-Kommission kündigt Nachbesserungen an, doch den Menschen in den Lagern fehlt der Glaube. „Sollen wir warten, bis wir sterben?“, fragen sie – und auch nach dem Verbleib angekündigter Spendengelder: „Wo ist das Geld geblieben? Warum kommt es nicht bei uns an?“ Antworten auf diese Fragen sind leider nicht zu erwarten.
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