Nun also die zweite Welle. Als hätte der Wochen lange Shutdown im Frühjahr nicht schon genug Schaden angerichtet – selbständige Existenzen zerstört, Jobs vernichtet, Ladeninhaber in die Pleite getrieben. Auch jetzt werden die Innenstädte wieder entleert, Fußgängerzonen und Shopping Malls von Kundenströmen abgeschnitten. Der stationäre Einzelhandel in Deutschland beklagte bereits bis zum Herbst Umsatzeinbußen von durchschnittlich 30 Prozent, mehr als Dreiviertel der Geschäftsinhaber schätzen die Stimmung schlechter ein als vor Corona. Am Ende des Jahres, fürchten die Verbände, könnten 50 000 Insolvenzen stehen, mehr oder weniger unmittelbare Folgen der Pandemie.
Das aber sind – bitter genug – bloß die ökonomischen Schleifspuren des Virus. Was jedoch macht diese Krise abseits volks- und betriebswirtschaftlicher Kostenrechnungen aus unseren Städten, dem öffentlichen Leben in der Provinz und den Metropolen, dem sozialen Miteinander auf Straßen und Plätzen? Ist es von Belang, wenn Menschen im Home-Office arbeiten, ihre Einkäufe online erledigen, Essen beim Caterer bestellen, Filme daheim auf dem Laptop streamen – statt ins Büro zu fahren, sich beim Discounter zu versorgen und ins Restaurant oder Kino zu gehen? Ja, sagt Talja Blokland (49), Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der Berliner Humboldt-Universität, das macht sogar einen sehr großen Unterschied.
Blokland leitet das Forschungsprojekt „Städtisches Leben unter Corona“, und erste Zwischenergebnisse bestätigen ihre Vermutung, dass aktuelle Kontaktbeschränkungen und reduzierte Öffnungszeiten gravierende Auswirkungen auf das Sozialgefüge der Städte haben:“Die Straße braucht uns! Dass wir nach draußen gehen, ist wichtig für die Demokratie, das Vertrauen und den Zusammenhalt in der Stadt.“ Wenn immer mehr Menschen immer öfter zu Hause bleiben (sollen), verliert der öffentliche Raum an Vitalität, sein wesentlicher Charakter als Ort der Begegnung und Kommunikation, als Bühne des Nebeneinander und Nebenbei geht zunehmend verloren. Blokland:“Auf Straßen und Plätzen passieren alle möglichen Dinge, während wir – oberflächlich betrachtet – nur shoppen oder flanieren.“
Bloklands Sicht auf die Stadt als soziales Netzwerk knüpft an die Theorien namhafter US-Autoren an. So machte die Architektin Jane Jacobs in ihrem Buch „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ schon 1961 auf den unverzichtbaren Wert „funktionaler Vielfalt“ im modernen Städtebau aufmerksam, also auf die positive Wirkung von Straßen mit gemischter Nutzung von Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Unterhaltung. Auch der Soziologe Richard Sennett („Die offene Stadt“) beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ und sieht „die Stadt als Schule öffentlichen Handelns und Forum der Begegnung mit anderen Menschen“ immer wieder von politischen, wirtschaftlichen oder technischen Eingriffen bedroht.
Ebenso sind die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie Attacken auf das, was Talja Blokland „vertraute Öffentlichkeit“ nennt. Stadträume helfen den Menschen dabei, sich zu orientieren in einer Gesellschaft, die von Interaktionen lebt. Schon ein scheinbar planloser Spaziergang produziert Kontakte mit Bekanntem wie Fremdem, mit Verhaltensweisen und Praktiken, die vom Betrachter wahlweise als „normal“ oder „abweichend“ empfunden werden. Blokland:“Wir kommen mit Menschen in Berührung, die uns unbekannt sind, über die wir aber nach und nach etwas erfahren, selbst wenn die Kontakte flüchtig sind.“ In der Öffentlichkeit teilen wir also den Raum mit Personen, die anders sind als wir selbst, die wir aber „lernen sozial zu lesen“.
In empirischen Studien hat Talja Blokland analysiert, dass die alltägliche Beobachtung von Verschiedenheit allmählich Vertrauen bildet und das subjektive Sicherheitsgefühl stärkt. Rückzug von Straßen und Plätzen dagegen bedeutet, dass Sozialkapital und Vertrauen schwinden. Am Leopoldplatz in Berlin-Wedding konnte Blokland feststellen, dass geschickte Umbauten (öffentliches WC, Wasserfontäne, geduldeter Aufenthaltsbereich für Trinker und Obdachlose) dazu führten, zuvor „Ausgestoßene“ durch eine gute Raumgestaltung besser zu integrieren:“Ein urbanes Gefüge mit ausreichend vielen unterschiedlichen Routinen“ löse Unwohlsein auf allen Seiten auf – bei den an den Rand Gedrängten wie bei den Alteingesessenen. „Diversität“ verliere durch regelmäßige Begegnung an Konfliktpotenzial:“Solange Fremde aufeinandertreffen, kann Vertrauen und Zusammenhalt wachsen. Wenn sie nur übereinander reden, ohne sich zu treffen, geschieht das nicht.“
So wie es Abstufungen der Kontakthäufigkeit gibt, so existieren auch unterschiedliche Grade der Distanz zu Menschen, denen man in der Stadt begegnet. Familie und Freunde sind gleichsam der innerste Kreis, dauerhafte Beziehungen pflegt man ebenfalls zu anderen Mitgliedern aus Vereinen oder Kirchengemeinden sowie zu den Eltern von Schulkindern aus derselben Klasse. Schließlich trifft man auch Leute aus der Nachbarschaft beim Metzger oder am Kiosk. Selbst zufällige oder informelle Verbindungen erleichtern den Umgang mit der Gemeinschaft, und wer die Inhaber der Dönerbude, der Änderungsschneiderei oder des „Späti“ an der Ecke persönlich kennt, fühlt sich in seinem Stadtviertel gleich sicherer.
Was aber vermissen die Menschen in Zeiten von Corona am meisten? Talja Blokland und ihr Team haben herausgefunden: Den Leuten fehlt vor allem ihr Sportverein (nicht das Fitness-Studio), also die sportliche Betätigung und der gesellige Austausch mit vertrauten Gleichgesinnten, auch das Gemeinschaftserlebnis bei großen Sportereignissen im Stadion oder in der Arena. Dazu bieten offenkundig weder Heimtrainer noch TV-Konsum einen gleichwertigen Ersatz. Wie überhaupt die Vision, digitalisierte oder virtuelle Welten („Smart City“) könnten künftig unser Leben in der Stadt einfacher, sicherer und attraktiver machen, trügerisch erscheint. Jedenfalls hofft Richard Sennett, dass „der Ausnahmezustand nicht zur neuen Normalität“ wird. Eine starke, stabile Zivilgesellschaft, die enge Sozialkontakte pflege, werde die Pandemie überstehen, aber eine schwache sei „durch das Gebot sozialer Distanz gefährdet“.
Dass in erster Linie die Politik gefordert ist, die Folgen von Lockdown und Präventionsregeln für die Gewerbetreibenden zu lindern, wird bei Kommunen, Ländern und Bund nicht bestritten. Allerdings wirkte Covid 19 nicht als Auslöser der Krise im Einzelhandel, sondern als Brandbeschleuniger. Dass der Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof die Schließung von 40 seiner 170 Filialen in Deutschland verfügte, darunter herausragende „Anker“ von Einkaufsmeilen und Fußgängerzonen, lag am Strukturwandel der Branche durch Digitalisierung und Verlagerung auf Online-Anbieter. Davon waren seit Jahren nicht nur die großen Kaufhäuser betroffen, sondern auch kleinere Fachgeschäfte und der Mittelstand, für die das Bundeswirtschaftsministerium im Sommer 2019 das „Kompetenzzentrum Handel“ einrichtete, eine Beratungs- und Hilfsinstitution für die betroffene Zielgruppe.
Das wird freilich nicht alle Probleme lösen, den wachsenden Leerstand in Einkaufszentren und das am Ende doch von Corona verursachte Aus für viele Kneipen und Restaurants. Eilig verkündete Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier Ende Oktober das Projekt „Ladensterben verhindern – Innenstädte beleben“, mit dem die Regierung die „Schaffung städtischer Erlebnisräume mit Kultur und Gastronomie“ fördern will:“Innenstädte sollen nicht veröden, sondern wieder Lieblingsplätze werden.“ Neben blumigen Ankündigungen stellt das Ministerium immerhin einen „Best-Practice-Katalog“ zur Verfügung mit bereits realisierten Konzepten, etwa einem „Click-und-Collect-Service“ in Mönchengladbach, bei dem online bestellte Kleidung an einem zentralen Ort in der City anprobiert, mitgenommen oder zurückgeschickt werden kann.
Der Einzelhandelsverband HDE verlangt zusätzlich ein steuerfinanziertes 100-Millionen-Euro-Paket, um die digitale Infrastruktur der innerstädtischen Läden auszubauen. „Der stationäre Handel ist mehr als Abverkauf“, sagt Tina Müller, Geschäftsführerin der Pafümerie-Kette Douglas,“er ist Erlebnis, Service, Beratung und Begegnung.“ Der Deutsche Städtetag regt an, einen Deckel für Gewerbemieten einzuführen, um nicht nur umsatzstarken Konzernen die Ansiedlung in attraktiven Citylagen zu ermöglichen. Zudem empfiehlt der Verband einen öffentlichen „Bodenfonds“, der den klammen Kommunen dabei hilft, mindestens vorübergehend Immobilien in besonders nachgefragten Innenstadtbereichen zu erwerben. Freilich geben Experten zu bedenken, dass der Blick von Politik und Wirtschaft nicht nur auf die Fußgängerzonen und Shopping Malls in der City gerichtet werden sollte. Erkennbar nämlich haben sich in dieser Krise gerade auch kleine Läden in der dezentralen Nachbarschaft behaupten können, abseits bislang pulsierender Einkaufsstraßen – von Inhabern geführte Buchhandlungen, Second-Hand-Kleider-Shops, Lebensmittelläden. Joachim Stumpf von der Münchner Handelsberatungsfirma BBE erklärt:“Die Kriterien für eine gute Lage haben sich mit Corona verschoben.“ Ortsansässige Stammkunden sind jetzt gefragt, Touristen und Laufkundschaft bleiben aus. Vielleicht erlebt ja sogar der gute alte Tante-Emma-Laden ein unerwartetes Comeback.
Erstveröffentlicht in der Ulmer Südwestpresse, 14.11.2020
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