Fast hätte man das Datum vor lauter Problemen mit Corona und der US-Wahl vergessen: Vor 102 Jahren endete der 1. Weltkrieg, La Grande Guerre, wie die Franzosen das Gemetzel nennen, das Millionen Menschen das Leben kostete. Wir verdanken es Florian Harms von t-online, dass dieser Termin in Erinnerung gerufen wurde mit dem furchtbaren, aber ehrlichen Titel: „Dem Menschenfresser ausgeliefert“. Menschenfresser, benannt nach dem Hartmannswillerkopf in den Vogesen. Die Elsässer gaben ihm den Namen „Berg des Todes“ oder eben „Menschenfresser“. Dort verliefen die Schützengräben von Franzosen und Deutschen nur wenige Meter nebeneinander, um jeden Zentimeter wurde gekämpft. Ein sinnloses Töten. Allein dort starben 30000 Soldaten. Man darf, man muss daran erinnern gerade jetzt, da an allen Ecken dieser Welt und auch in Europa wieder ein Nationalismus erstarkt, der schon damals vielen zum Verhängnis geworden ist und den Ausbruch des Krieges mitausgelöst hatte. Heute ringen wir um ein Gesamt-Europa, man hat sich im Europa-Parlament auf einen Etat von einer Billion Euro verständigt, für das ganze Europa, mitten in der Pandemie, die nicht nur, aber auch die europäischen Länder heimsucht und schon viele Opfer gefordert hat. Man einigt sich und geht nicht aufeinander los, wie damals während der Zeit des Grande Guerre. Gemessen daran ist das heute ein kleinlicher Streit ums Geld.
Mir fiel der Besuch von Helmut Kohl in Verdun ein, als er sich mit dem französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand traf und beide Staatsmänner händchenhaltend vor dem mächtigen und schrecklichen Soldatenfriedhof Donaumont in Verdun standen, bei strömendem Regen der Opfer gedachten. Einige Veteranen standen in Reih und Glied dabei, die die Schlacht überlebt hatten. Das war am 22. September 1984. Hand in Hand, darüber mag mancher gelächelt haben. Die beiden Politiker, der Deutsche wie der Franzose, waren aber von ihren Gefühlen übermannt worden. Mir lief ein Schauer über den Rücken, weil ich natürlich an die Geschichte dachte, an dieses Gemetzel, das sich hier einst zwischen den Feinden abgespielt hatte. Damals. Und heute stehen sie nebeneinander, Kohl und Mitterrand als Freunde, während der Trompetenspieler über den Gräbern steht und die Totenklage bläst. In Verdun waren 700000 Soldaten umgekommen. Mitterrand hatte im 2.Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland gekämpft, Helmut Kohl hatte einen Bruder in diesem Krieg verloren.
Man darf das nie vergessen, dass der Krieg in Frankreich ganze Dörfer ausgelöscht hatte. Übrigens war es Mitterrand, der die Hand ausgestreckt hatte und Kohl hatte sie gern ergriffen. Wir Journalisten waren dabei, waren bei Regen und Sturm in wackligen Maschinen nach Frankreich geflogen, am Ende mussten wir noch in einen Hubschrauber umsteigen, nicht jedem sind die beiden Flüge gut bekommen.
Florian Harms schildert die Schrecken des Krieges, wie junge Burschen in den Krieg marschierten, fast möchte man sagen mit klingendem Spiel. Denn man hatte ihnen einen überzogenen Nationalstolz eingebläut, ihnen das Gefühl vermittelt, dass man es den Franzosen zeigen müsste. Also zogen sie begeistert in die Schlacht, überzeugt, in wenigen Wochen wieder zu Hause zu sein. Man wollte die Franzosen verkloppen, die Tommys vermöbeln, so die Sprüche, viel Feind viel Ehr, lautete das Motto, weil sie keine Ahnung hatten, was ihnen bevorstand.
Jubelnd zogen auch Künstler wie der Bonner Maler August Macke an die Front, er starb schon am 26. September 1914 in Perthes-lès-Hurlus in der Champagne, da war der Krieg gerade ein paar Wochen alt. Auch sein Künstler-Freund und nicht weniger berühmt, Franz Marc zog fröhlich an die Front, er starb am 4. März 1916 bei Verdun. Die Lyrikerin Else Lasker-Schüler dichtete: “ Als der blaue Reiter war gefallen..“ Die anfängliche Kriegsbegeisterung war schnell verflogen, als sie ringsum die Verletzten und Toten sahen, blutüberströmt, verkrüppelt. Ödon von Horvath beschrieb die Stimmung im April 1914 in seinem Roman „Jugend ohne Gott“. „Sie wollten Maschinen sein…Wie gerne würden sie krepieren auf irgendeinem Feld. Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät.“ Welch ein Wahnsinn.
Vor ein paar Jahren war ich bei einem Besuch in Paris auch im Wald von Compiegne. Dort wurde der Waffenstillstand unterzeichnet, Jahrzehnte später demütigte Hitler die zunächst unterlegenen Franzosen exakt in dem Eisenbahnwaggon, der auch der Ort des Waffenstillstand von 1918 war. Jeder Europäer sollte sich diesen Ort anschauen, er sollte nach Verdun fahren und sich umschauen und daran denken, dass er auf einem Schlachtfeld steht, auf dem Hunderttausende ihr Leben ließen, weil übersteigerter Nationalismus und Chauvinismus und Größenwahn sie dahingetrieben hatte.
102 Jahre nach dem 1.Weltkrieg, 75 Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Europa lebt seit Jahrzehnten in Frieden, Franzosen und Deutsche sind Freunde, niemand in Polen oder in den Niederlanden und in Belgien muss sich vor Deutschland fürchten. Wir sind umzingelt von Freunden. Doch vergessen wir die Geschichte nicht. Es gibt allein in Deutschland über 100000 Krieger- und Ehrenmäler im Gedenken an die schlimmen Zeiten, da Europäer sich pausenlos die Köpfe einschlugen. Eines davon steht in Fürth, es hat die Form eines Fußballs. Es erinnert an das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft am 31. Mai 1914 zwischen dem VFB Leipzig und der SpVgg Fürth. Das Spiel stand nach zweimaliger Verlängerung 2:2 und dann wurde regelgemäß bis zum nächsten Tor weitergespielt. Das schoss der Fürther Spieler Franz Karl in der 153. Minute. Fürth war Deutscher Meister.
Der Kicker Karl starb vier Monate später an der Front in Lothringen. Das Denkmal in Bonn-Kessenich gedachte zunächst der Toten aus dem 1.Weltkrieg. 1956 wurden die Namen der im 2. Weltkrieg umgekommenen Männer, Frauen und Kinder sowie die Namen der 110 Vermissten hinzugefügt.
Europa lebt. Nie wieder Krieg.
Bildquellen: Alfons, Pieper, Fürth-Wiki Franz Karl, Gedenkplatte mit dem Namen August Macke, Wikipedia, Floerke CC BY-SA 4.0