Ahmed Mansour kennt die Probleme der Integration aus erster Hand. Der Sohn arabischer Israelis verließ die Heimat, nachdem er 2004 einen Terroranschlag in Israel miterlebt hatte. Er suchte einen Ort mit sozialem Frieden und ging nach Deutschland. Gefunden hat er diesen Frieden nicht, sondern ist mehr und mehr auf Hass gestoßen, Antisemitismus und Rassismus. Sein neues Buch „Solidarisch sein! Gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass“ ist ein Appell, ein Aufschrei gegen eine Fehl-Entwicklung in Deutschland, gegen die es anzukämpfen gelte. „Gesellschaften, in denen die politischen Ränder am lautesten sind, während die Mitte schweigt, verlieren ihre demokratische Basis.“
Israel im Jahr 2004: „Das Land war zerrissen“, schreibt Mansour. „Terror, Hass und Polarisierung bestimmen den Alltag. An einem regnerischen, kalten Morgen saß ich im Auto, der Verkehr bewegte sich nur sehr langsam. Ich wartete, dass die Ampel auf Grün schaltete, hörte Musik“. Eine Alltagsstimmung für Mansour wie für viele andere Israelis. „Plötzlich kamen mir Menschen entgegengerannt und liefen an mir vorbei: Eltern, Kinder, Junge, Alte. Ich werde ihre Gesichter und das, was ich in ihnen sah, niemals vergessen. Das war keine Angst in ihren Gesichtern, da war eine Leere. Für ein paar Sekunden verstand ich nicht, was passierte. Dann sah ich den Terroristen. Er schoss mit seinem Maschinengewehr auf die umliegenden Wagen. Im nächsten Augenblick traf ihn der tödliche Schuß eines israelischen Soldaten. Es waren die schrecklichsten Minuten meines Lebens.“ An diesem Tag beschloss Mansour, das Land zu verlassen, er kündigte den Job, nahm Abschied von Kollegen, buchte einen Flug und landete wenige Tage später mit Koffern und viel Hoffnung im Gepäck in Berlin-Tegel.
Mansour wurde nicht körperlich verletzt, aber im Innern schwer getroffen, die Wunden seien psychisch, schildert er seinen Zustand. Bombenattentate, Tote, Bilder von Verletzten und die Angst, was wäre mit ihm gewesen, wenn er zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen wäre, all dies habe sich in seine Seele gebrannt. Und dann passierte Hanau, am 19. Februar 2020 wurden bei Anschlägen in der hessischen Stadt zehn Menschen ermordet. Der Täter erschoss neun Personen in und vor zwei Sushibars und auf der Fahrt zwischen beiden Orten. Später erschoss er sich und seine Mutter in der elterlichen Wohnung. Alles, was Mansour hinter sich gelassen glaubte, hatte ihn wieder eingeholt. „Meine neue Heimat war vom Terror betroffen“, schreibt er, der auf dem Weg zu einem Workshop in einer Schule war. Was sollte er dort sagen? Das geplante Thema quasi abspulen, als wäre nichts gewesen. „Oder war es unsere Pflicht, mit den Schülerinnen und Schülern über den Anschlag zu sprechen?“ Mansour entscheidet sich für das zweite, das aktuelle.
Dann beschreibt er die beklemmende Situation, die er in der Schule antrifft, bei den Lehrern, bei den Schülern. „Der Anschlag der letzten Nacht war da, von Anfang an, mitten im Raum, zwischen uns. Alle konnten ihn fühlen, aber keiner sagte etwas dazu.“ Aber als er sie fragte, was sie gehört hätten, ob die Eltern mit ihnen darüber gesprochen hätten und er sie fragte, was die Nachricht über die Anschläge mit ihnen gemacht hätte, seien die anfangs müde wirkenden Schülerinnen und Schüler hellwach geworden, gerade so, als hätte man ihnen einen Kübel Eiswasser über den Kopf gegossen. Und ein Sturm der Empörung sei „über uns hereingebrochen: Wie fremdenfeindlich Deutschland sei. Wie hasserfüllt die Mehrheitsgesellschaft mit ihnen umgehe. Sie fragten, wie man Muslime hassen könne, die einfach nur friedlich leben wollten, die keine Chance hätten, weder in der Schule noch bei Türstehern von Clubs, bei der Wohnungssuche, bei der Jobsuche. Sie erzählten uns von ihrer Angst um sich und ihre Familien.“
Gegen Vorurteile in der Gesellschaft
Das kleine Buch gibt die Vorurteile wieder, die es in der Gesellschaft gibt gegen Muslime, gegen Farbige, gegen Ausländer, weil sie anders aussehen, kein Deutsch können. „Die Opfer waren ja nur Muslime“, lese ich bei Mansour weiter. „Um die trauert man nicht.“ Steht da zu lesen. Und dann liest man von einem Jungen, der vergeblich versucht hatte, sich mit einer Zahnbürste im Bad die Farbe aus dem Gesicht abzuschrubben und der weinend seiner staunenden Mutter die Frage stellt. „Muss ich immer damit rechnen, dass mich jemand abstechen oder killen möchte, nur weil ich schwarz bin? Das ist nur Hautfarbe. Das ist keine Kacke.“
Zuhören ist das Gebot, das der Autor in diesem Zusammenhang seinen Lesern auf den Weg gibt, zuhören, dem anderen das Gefühl vermitteln, dass man sich in ihn und seine Lage hineinversetzt, dass man ihn versteht. Man müsse sich für die Gefühle der anderen interessieren, seine Meinungen erfahren wollen, nachfragen, was die Menschen mit Migrationshintergrund bedrückt, man solle aber nicht ihnen eine andere Meinung aufzwingen oder sie abwerten. Die Menschen wollten debattieren, Argumente austauschen, man müsse Kritik zulassen. „Wir sind hier, weil wir Interesse dran haben, mit euch zu diskutieren“, haben Mansour und sein Team den Schülerinnen und Schülern gesagt. Und sie hätten offen Rollenspiele geübt mit den Jugendlichen, um über Identitäten, über patriarchalische Väter, über Gleichberechtigung, die Akzeptanz von Unterschieden, über Antisemitismus, Angst und Liebe zu reden.
Ahmad Mansour ist vor Ort und erlebt vor Ort unmittelbar, wie sich Lehrer und Eltern überfordert fühlen können, wie Jugendliche sich im Stich gelassen fühlen. Und er stellt sich und anderen die Frage, wie man über deren Ängste reden könne, über Extremismus und Hass, dem sie begegnen und den sie empfinden. Solidarität ist die Antwort des arabischen Israelis Mansour, der in Berlin lebt, Solidarität sei gefragt beim Staat und der Gesellschaft. In der Corona-Krise hätten die Deutschen Solidarität gezeigt gegenüber den Schwächeren und den Alten, Solidarität sei also möglich, wenn man dies auf Migranten übertrage, auf Flüchtlinge. Es gelte zusammenzuhalten, deren Sorgen und Ängste ernst zu nehmen und Empathie zu zeigen, sich also in die Lage des anderen zu versetzen. Und Mansour plädiert auch dafür, offener und ehrlicher über Rassismus zu sprechen als das bislang geschehe. Man brauche eine Debatte ohne Tabus, geprägt von gegenseitiger Anerkennung und Flexibilität im Denken.
Mansour, Jahrgang 1976, Diplom-Psychologe, arbeitet für Projekte gegen Extremismus. Die FAZ bescheinigt dem Autor des Buches, er sei unparteiisch und sachlich, lehrreich und erfrischend. Er zeigt auf, wie Intoleranz in Form von Rassismus, Antisemitismus und Hass entstünden und Schritt für Schritt salonfähig würden. Diese Entwicklung müsse gestoppt werden, auch die Deutschen müssten dafür Sorge tragen, dass die demokratische Kultur im Lande aufrecht erhalten werde, das Gros der deutschen Bevölkerung müsse sein Nichtstun in dieser Sache aufgeben. Der Autor schätzt Deutschland, er fordert mehr Miteinander und keine Ghettos, weder eins in Zehlendorf noch eins in Neukölln. Nur im Gespräch miteinander ließen sich Vorurteile abbauen. Man müsse in die Lage kommen, die Perspektive von anderen einzunehmen.
Er fordert Demokratieerziehung in den Grundschulen, die Lehrer müssten dafür geschult werden. Die Schüler müssten lernen, andere Meinungen auszuhalten. Man müsse begreifen, dass die Schule der Ort sei, „an dem wir Menschen zu Demokraten machen“. Dies müsse Teil der Lehrpläne werden. Er widmet das Buch allen Pädagogen und Sozialarbeitern, weil „die leider viel zu oft allein gelassen werden.“