Ich schäme mich, Folgendes zu schreiben: Es ist eine bittere, niederschmetternde Erkenntnis, die sich mir mit aller Wucht aufdrängt: Mit der Weigerung, allen 12 000 Flüchtlingen die seit Tagen und Nächten auf der Insel Lesbos vegetieren, sinnvolle Hilfe anzubieten, hat das christliche Abendland seinen Anspruch als Vertreter einer unumstößlichen Leitkultur auf Jahre hinaus ruiniert. Es ist ein jämmerliches gesamteuropäisches Versagen. Denn unsere anspruchsvollen Werte, die seit Jahrhunderten von Europa aus stolz und teilweise mit Gewalt in alle Länder der Welt getragen wurden, sind mit dem feigen Zögern, helfend einzugreifen, zertrampelt und wertlos geworden.
Wer soll unseren Wertvorstellungen, in denen es um Nächstenliebe und Brüderlichkeit geht, noch trauen. Ich kann jedermann in Asien und Afrika verstehen, der unser rituelles Gequatsche von praktiziertem Humanismus als unglaubwürdig deklassiert. Europas Rolle, Vorbild sein zu wollen auf moralisch-ethischem Gebiet, ist einmal mehr beschädigt worden, sie ist den Entscheidungsträgern offensichtlich mehrere Nummer zu groß. Wie wollen wir, so frage ich, künftig noch in alle Länder gehen und alle Völker lehren?
Dabei will ich gar nicht richten über die ablehnende Haltung, mit denen sich unsere europäischen Nachbarn Polen und Ungarn brüsten, auch will ich nicht die abwartende Einstellung in Spanien, Portugal und Italien beurteilen. Nein, es reicht schon, vor der Tür im eigenen Land zu kehren, ist doch der Haufen Gedankenmüll dort hoch genug.
Mir ist es völlig schleierhaft, warum die Kanzlerin ihrem optimistischen Satz von 2015 „Wir schaffen es“ nicht ein zuversichtlichen „Wir schaffen es auch diesmal“ folgen lässt. Das wäre keine ungestüme Prophetie. Denn wir haben inzwischen feststellen können, dass die damalige riesige Flüchtlingswelle nicht den Untergang der Bundesrepublik bedeutet hat. Umso mehr können wir jetzt davon ausgehen, dass die 12 000 Opfer der Brandkatastrophe auf Lesbos unsere Aufnahmekapazität nicht sprengen würden. Aber die Kanzlerin, die sich für ihre Karriere nicht mehr um Wählergunst bemühen muss, schweigt lange, von ihr kein aufrüttelndes Wort.
Und es schweigt auch der schon etwas tapsige Innenminister und versteckt sich hinter dem Parteifreund aus Bayern, der mit der Statur eines Preisboxers doch sonst so gern seine Tatkraft präsentiert. Ist es wirklich nur die Angst vor der AfD, die die Herren Söder und Seehofer ihre christlichen Prinzipien vergessen lässt oder vielmehr die Unfähigkeit, sich der Leiden anderer anzunehmen?
Aber seltsam, wie gelähmt, die Reaktionen auch der anderen Politiker, des Koalitionspartners, der Oppositionsparteien. Wo bleibt der Aufschrei der christlichen Kirchen, der Gewerkschaften, wo das spontane Hilfsangebot all derer, die vorgeben, sich um das Wohlergehen der Menschen zu sorgen?
Wie will man je wieder überzeugend auf diejenigen einwirken können, denen man stets und vehement Verstöße gegen die Menschlichkeit vorwirft? Was ist der völlig zu Recht betriebene Aufwand um den vergifteten russischen Oppositionellen Nawalny politisch noch wert, wenn man die Flüchtlinge auf der griechischen Insel so demonstrativ in ihrem Elend belässt? Mit Vorwürfen, die sich aus moralischer Überlegenheit speisen, wird man Gegnern und Feinden kaum noch beikommen können. Es wäre wohltuend, wenn die Bundesregierung dem Gerede von Deutschlands größerer Verantwortung in der Welt Taten folgen ließe, denen sich, wie im Jahr 2015, alle anschließen könnten, denen tätige Hilfe mehr als ein ödes Lippenbekenntnis ist. Und das dürften wieder weitaus mehr Menschen sein, als das Gespenst AfD mit seinem Geschrei hinter sich vereinen wird.
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