Der von der Parteilinken 2019 als Vorsitzender verhinderte SPD-Mann Olaf Scholz soll auf Vorschlag und mit Unterstützung der Linken in der ältesten deutschen Partei diese wieder in die Regierung führen. Ein schwieriges Rennen, fast ein Marathon für den Rechten, der mal ein Linker war und der als Finanzminister die Gerechtigkeitsfrage stellt. Ein Porträt von Gunther Hartwig, langjähriger Bonner und Berliner Korrespondent der Ulmer „Südwestpresse“ und ein erstklassiger Kenner der SPD und von Olaf Scholz. (Redaktion)
Ende März, kurz nachdem in Deutschland der Lockdown für Gastronomie, Handel und Handwerk verhängt worden war, klingelte in einem kleinen Friseursalon im Berliner Regierungsviertel das Telefon. „Scholz hier. Tach“, so meldete sich der Anrufer beim überraschten Inhaber des Ladens. Zwar war der Bundesfinanzminister seit einigen Jahren regelmäßiger Kunde des jungen Coiffeurs, auch hatten die beiden Herren bei den Sitzungen immer wieder über Politik geredet, über den Mindestlohn, die Bonpflicht oder den Soli, doch dass der Vizekanzler mitten in der Corona-Krise Zeit für ein persönliches Gespräch mit ihm hatte, fand der Figaro denn doch erstaunlich.
Wohl zehn Minuten dauerte die Unterhaltung damals. Olaf Scholz wollte wissen, wie es dem Friseurmeister und seiner Familie in der Pandemie erging, was aus seinen Mitarbeitern wird, wie er die staatlich angeordnete Betriebsschließung verkraften werde. Inzwischen kann sich der Minister seine Haare wieder wie gewohnt dort schneiden lassen, der Eigentümer hat die Monate lange Durststrecke überstanden, die Angestellten sind aus der Kurzarbeit an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Und der Chef wird nicht müde, bei seiner Kundschaft zu rühmen, wie rührend sich der Minister um die Existenz eines kleinen Unternehmers gesorgt hatte.
So ähnlich geht es Olaf Scholz oft. Immer wieder erleben die Menschen, die ihm näher kommen können, dass irgendetwas nicht stimmt an den Klischees, die der 62-jährige Sozialdemokrat mit sich herumschleppt. Dröge, humorlos, empathiefrei, unzugänglich – was haben die Journalisten nicht alles über den in Hamburg groß gewordenen Osnabrücker geschrieben? „Scholzomat“ – eine unfreundliche Wortschöpfung aus seinen Tagen als glückloser SPD-Generalsekretär unter Kanzler Gerhard Schröder, als er den ganze Frust der Genossen über dessen Agenda-Politik auszuhalten hatte. Immerhin auch:“Einer unserer Klügsten.“ Aber dieses scheinbar positive Urteil Schröders hatte immer den Beigeschmack von intellektuellem Hochmut.
Seelenverwandt mit Helmut Schmidt
Wahr ist, dass Olaf Scholz – darin seinen beiden hanseatischen Vorfahren Helmut Schmidt und Peer Steinbrück durchaus seelenverwandt – Gesprächspartner spüren lässt, wenn er sich geistig überlegen fühlt oder glaubt, dass seine Argumente schwer zu widerlegen sind. Gern empfiehlt er schlaue Bücher meist englischsprachiger Autoren, um zu demonstrieren, dass er er sich auf der Höhe des wissenschaftlichen Diskurses befindet. „Manchmal“, sagt ein früherer Weggefährte,“muss man den Olaf vor seiner Selbstgewissheit schützen.“ Bisweilen wird seine Überheblichkeit bitter bestraft. Am Abend vor dem Hamburger G20-Gipfel im Juli 2017 wähnte sich der Erste Bürgermeister noch völlig sicher vor Chaoten und Radikalen – wenig später brannten Autos an der Elbchaussee, Supermärkte im Schanzenviertel wurden geplündert.
Das Vertrackte ist, dass auch die engsten Vertrauten des amtierenden Finanzministers nicht zu übertriebener Demut neigen. Seine Staatssekretäre und Berater verfügen zweifellos über herausragende fachliche und politische Erfahrungen, aber ebenso wie ihr Frontmann über ein pralles Ego. Scholz wird aus seinem Umfeld eher darin bestätigt, dass er der Beste sei, als dass ihn jemand in seinen Ambitionen bremst. Das „Projekt Olaf 2021“ war im „Vizekanzleramt“ längst beschlossene Sache, bevor sich die Öffentlichkeit mit der Frage befasste, wen die Sozis im nächsten Bundestagswahlkampf an die Spitze stellen sollten – und ob es überhaupt sinnvoll ist, den Kanzlerkandidaten einer Partei zu nominieren, die in Umfragen bei 15 Prozent eingemauert scheint, also allenfalls als Juniorpartner eines wesentlich größeren Koalitionspartners in Betracht kommt.
Andererseits: Wer, wenn nicht Scholz, könnte die SPD in ein aus heutiger Sicht ziemlich aussichtsloses Rennen um die Macht in Berlin anführen? Der Mann, der aus Niederlagen lernt, der nach Rückschlägen nicht hadert, sondern aufsteht. Kaum einen Pfifferling gaben die selbsternannten Auguren für den einst krachend gescheiterten Schröder-General, und nach seiner erfolglosen Bewerbung um den Parteivorsitz Ende 2019 galt Scholz für die meisten Beobachter erst recht als „Politiker auf Abruf“. Doch selbst schmachvolle Abfuhren hinderten den ehemaligen Juso-Vize mit kapitalismuskritischer Attitüde nicht daran, ein Comeback in Angriff zu nehmen. Bislang ist es Scholz jedes Mal eindrucksvoll gelungen, ob als Fraktionsmanager unter Peter Struck, Arbeitsminister im ersten Kabinett von Angela Merkel, Regierungschef in Hamburg oder nun als Hoffnungsträger einer Partei, die ihm vor nicht einmal zwölf Monaten so krass die kalte Schulter gezeigt hat.
Juso-Chef lobt den Kanzlerkandidaten
Vielleicht sind es genau diese Steherqualitäten, die vormalige Gegner wie den Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, so etwas wie die Galionsfigur der parteiinternen „NOlaf“-Bewegung, zum Umdenken gezwungen haben:“Er macht seinen Job verdammt gut“, lobt der SPD-Vize seinen Genossen neuerdings,“wir alle können froh sein, dass mit Olaf Scholz ein Sozialdemokrat Finanzminister ist, der Sicherheit ausstrahlt und nicht aus ideologischen Gründen mit dem Geld knausert.“ Wenigstens diesen erfreulichen Effekt hat Corona für den bis dahin unnachgiebigen Verteidiger der „Schwarzen Null“ gehabt – dass sich Scholz wohl oder übel von der Politik strikter Sparsamkeit verabschieden konnte, sehr zum Gefallen seiner internen Widersacher.
Dennoch weiß der knallharte Pragmatiker, dass es kein Zuckerschlecken wird, die Wahlkampagne unabhängig von knebelnden Vorgaben aus der Parteizentrale zu planen. Jene „Beinfreiheit“, die schon Peer Steinbrück 2013 vergeblich für sich reklamierte, wird auch Olaf Scholz nicht zugestanden werden, obwohl er der mit Abstand beliebteste SPD-Politiker derzeit ist. Die führenden Sozialdemokraten, also neben den Ko-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sowie deren Vize Kevin Kühnert auch Generalsekretär Lars Klingbeil, nicht zuletzt die SPD-Ministerpräsidenten um Stephan Weil, Malu Dreyer und Manuela Schwesig, werden teils eifersüchtig darauf achten, dass sie bei programmatischen und strategischen Positionen mitreden.
Diese Neigung, den jeweiligen Spitzenkandidaten an die kurze Leine zu nehmen, hat in den vergangenen Jahrzehnten noch allen Aspiranten auf das Kanzleramt die Laune verdorben, erst Frank-Walter Steinmeier, dann Peer Steinbrück und Martin Schulz. Dass die Parteispitze ihre Verabredung, den Finanzminister aufs Schild zu heben, über Wochen geheimhalten konnte, ist zwar ein Hinweis auf gewachsenes Vertrauen, aber noch keine Garantie dafür, dass diese Geschlossenheit mehr als ein Jahr anhält. Freilich hat Scholz einige Vorleistungen erbracht, die Skeptiker einstweilen gewogen stimmen: Er hat nicht gegen seine Bezwinger Esken/Walter Borjans gestänkert, er hat in der GroKo SPD-Forderungen standhaft verteidigt (zum Beispiel das Nein zu Kaufanreizen für Verbrenner-Motoren), er hat seiner gestürzten Ex-Konkurrentin Andrea Nahles eine achtbare „Anschlussverwendung“ im Bundesdienst verschafft.
„Ich bin liberal, aber nicht doof“, so hat Olaf Scholz vor Jahren all jene beschieden, die ihm die Rolle des „harten Hundes“ bei der Verteidigung des Rechtsstaats nicht zutrauten. Mittlerweile hat er auch bewiesen, dass er aus den bitteren Erfahrungen mit der Agenda 2010 gelernt hat. Da bemühte der ehemalige Kriegsdienstverweigerer sogar äußerst martialische Begriffe wie „Feuerkraft“, „Bazooka“ und „Wumms“, um sein milliardenschweres Anti-Corona-Hilfspaket für Wirtschaft und Arbeitnehmer zu bewerben. Kritiker, die immer noch an der sozialdemokratischen Grundhaltung des Mitte-Mannes zweifeln, lässt er wissen:“Ich bin ein echter truly Sozialdemokrat.“ Und dass es ihn ganz persönlich berührt, wenn die SPD demoskopisch unter Wert gehandelt wird.
Schließlich will er die Wahl in zwölf Monaten gewinnen, ganz ernsthaft. Mit der richtigen Aufstellung, das hat er schon vor Jahren verkündet (damals sehr zum Missfallen der jeweiligen Kanzlerkandidaten), könne seine Partei rund zehn Prozentpunkte mehr holen als die mickrigen Umfragewerte. „Dass es einfach wird, ist in der Politik eine ziemlich komische Illusion.“ So hat es Olaf Scholz im März 2017 schon bei der Präsentation seines Buches „Hoffnungsland“ formuliert. Dieses Bekenntnis des roten Realos gefiel seinerzeit dem Laudator, Joschka Fischer, ganz augenscheinlich, denn der Patriarch der Grünen ließ sich zu einem seltenen Kompliment herab:“Das Buch repräsentiert für mich die Tugenden und Stärken von Olaf Scholz, nämlich auf klarer Wertegrundlage und mit hoher Kompetenz einen sehr überzeugenden und pragmatischen Ansatz zu haben, also die Dinge zu lösen, die praktischen Fragen, die sich stellen.“
Erstveröffentlichung: Südwestpresse(Ulm)
Bildquelle: SPD, Thomas Trutschel / Photothek