Es gibt einen Artikel aus der weißrussischen Volkszeitung vom April 1996, in dem es unter anderem heißt:“…Man muss vor allem den Schleier der Fremdheit zerreißen, der Weißrussland umgibt. Wir sind ja für die Welt eine Terra incognita, ein unbekanntes, unerforschtes Land. Von Tschernobyl wissen alle, aber nur in Verbindung mit der Ukraine und mit Russland. -White Russia- (Weißes Russland) – so klingt der Name unseres Landes in Englisch.“ Es ist ein fremdes, sehr unbekanntes verwüstetes Land ohne Küsten, mit Grenzen zu Polen, der Ukraine und Russland, zu Lettland und Litauen, mit gastfreundlichen, melancholischen, unerhört mutigen Menschen, die und deren Vorfahren mindestens in den vergangenen 80 Jahren Katastrophen hinnehmen mussten. Die Wehrmacht überfiel 1941 die UdSSR, besetzte Weißrussland. Sie ermordete 25% der Bevölkerung, darunter fast alle Juden, zerstörte 85% der Industriebetriebe, tötete 80% des Viehbestandes, vernichtete die Hälfte der Saatfläche. Das Hauptgebiet des Partisanenwiderstandes war Weißrussland; über 1000 Gruppen im Untergrund kämpften couragiert und häufig nicht sehr erfolgreich gegen die Wehrmacht. 1944 zogen die deutschen Truppen ab. Das Land war zertrümmert, als die Rote Armee auf dem Weg nach Berlin einmarschierte, ihr System bis 1990 unnachgiebig etablierte.
Es kam das Frühjahr 1986. „Die Katastrophe von Tschernobyl wurde zur größten technologischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“ Weißrundland hat nicht so viele Einwohner; etwa 10 Millionen. Tschernobyl ist ein nationales Unglück für das Land. Die Menschen sind wehrlos aber nicht feige. Die Machthaber in Moskau, in Kiew sind es, zumindest eine sehr lange Zeit: „Während des großen vaterländischen Kriegs zerstörten die deutschen Faschisten auf weißrussischem Boden 619 Dörfer mitsamt ihren Bewohnern. Nach Tschernobyl verlor das Land 485 Dörfer und Siedlungen. 70 davon sind bereits für immer dem Erdboden gleichgemacht. Im Krieg fiel jeder vierte Weißrusse, heute lebt jeder fünfte auf verseuchtem Gebiet. Das sind 2,1 Millionen Menschen, davon 700 00 Kinder, berichtet Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch TSCHERNOBYL EINE CHRONIK DER ZUKUNFT. Die Literaturnobelpreisträgerin hat einmal von der Katastrophe der sowjetischen Mentalität geschrieben und eben die beginnt mit Tschernobyl und mit dem Machtantritt des Politstellvertreters bei einer sowjetischen Panzerkompanie und ehemaligen Instrukteurs der sowjetischen Grenztruppen in Brest: Aljaksandr Lukaschenka, so heißt er in der weißrussischen Sprache.
Er hat am 30. August Geburtstag und dieses Jahr wird er 66 Jahre alt. Eine berufliche, eine politische Karriere hat er, bevor er die Macht geschickt, rücksichtslos und brutal in Minsk übernahm, nicht gemacht. Er hat Agrarwissenschaften studiert und Geschichte, war einige Zeit Sekretär der KPdSU und leitete eine Sowchose, er gehörte zu den Putschisten im August 1991 in Moskau gegen Michael Gorbatschow. Nach dem Gewinn der ersten Präsidentenwahl in Weißrussland ging es auch gleich los: Ein Beispiel ist die Presse, sie orientierte sich in jener Zeit politisch wie wirtschaftlich nach Westen. Lukaschenka war dagegen und unterband diesen Prozess. Die Privatisierungen wurden gestoppt, sowjetische Staatssymbole wieder eingeführt. Was seiner Macht und deren Ausbau wie Erhaltung diente, setzte er nachdrücklich ein wie durch. Die Opposition wurde eingeschüchtert, mit ihr sympathisierende Publizisten und Politiker verschwanden. Zivile, faire Formen der Auseinandersetzungen auch. Er berief sich auf die – gewiss nicht einfache – Geschichte Weißrusslands, wenn sie ihm nutzte. Für Literatur und Malerei hat er nicht viel übrig. Swetlana Alexijewitsch hat das erfahren.
Durch Witebsk fließt die Düna. Auf der einen Seite steht die Marktkirche. Auf der anderen Seite des Flusses gibt es ein kleines Haus. Hier hat der junge Marc Chagall gewohnt. Zehn Jahre war Chagall alt, als er mit seinen Eltern hier einzog. Der später so genannte „Maler – Poet“ wurde als Moische Chazkelewitsch Schgal in dem kleinen Ort Peskowatik, gar nicht weit von Witebsk, 1887 geboren. Als er 1985 starb, war Aljaksandr Lukaschenka 31 Jahre alt, die Katastrophe von Tschernobyl noch ein Jahr entfernt, die Auflösung der Sowjetunion noch 16 Jahre. Chagall ist für die Weißrussen tatsächlich so etwas wie ein Maler-Poet gewesen. Seine Bilder, seine Mosaiken zeigen die Familie, viele witebsker Motive, darunter auch häufig die Marktkirche sowie aus der Bibel. Er verließ die UdSSR noch zu Lenins Lebzeiten, er emigrierte nach seiner Rückkehr in seine Weißrussische Heimat aus Furcht vor den Nationalsozialisten. Seine Arbeiten fanden im Kommunismus nur Ablehnung, nicht anders ist es im weißrussischen Regime. Auch Witebsk hat sich lange schwer mit Chagall getan: „Ein guter Mensch kann bekanntlich ein schlechter Künstler sein. Aber niemals wird jemand ein echter Künstler, der kein großer Mensch und daher auch kein guter Mensch ist.“ Viele Weißrussen kennen diesen Satz. Sie wissen, dass er nicht auf die Machthaber in ihrem Land zutrifft und haben von ihnen weitgehend die „Nase gestrichen voll“ : Von den „Lukaschenkos in Weißrussland“, deren Ignoranz und Gewalttätigkeit, von Korruption und Unfreiheit. Und es sind vor allem Frauen, die im Widerstand gegen die „Katastrophe Lukaschenka“ aktiv und führend sind.