Der journalistische Blick auf die deutsche Parteienlandschaft wird weitgehend durch die Berliner Brille getrübt, die überwiegend nur die Nahsicht zulässt und Weitblick oft vermissen lässt. Wer Bonner und Berliner Zeiten erlebt hat, muss zwar mit dem Alter nicht die Weisheit gefressen haben, kann aber sehr wohl dem medialen Herdentrieb mit Distanz begegnen. Die großen Skandale der Republik wurden ja weitgehend nicht von den Hauptstadtjournalisten aufgeklärt, schon gar nicht von den Vertretern der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Denn Nähe und Vertrautheit der politischen Inszenierungen trübt die journalistischen Dioptrien und nur wenige können sich dem Mainstream der vielen Hinterzimmer, Freundeskreise und Seilschaften entziehen.
Wenn, wie im Fall der SPD, noch die vielen Selbstmordversuche mit entsprechenden Wahlergebnissen hinzukommen, dann wird es schwer aus dem Keller in die Belle Etage der veröffentlichten Meinung zu kommen. Personalstreitigkeiten zumal, eine Meisterdisziplin der SPD, finden gerne mediale Abnehmer, auch weil sich inhaltliche Thematisierungen schwerer vermitteln und „verkaufen „ lassen.
Trotz katastrophaler Umfrageergebnisse haben die Sozialdemokraten jetzt Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten gekürt. Hat er eine Chance trotz des Führungsduos Esken/Borjans, welches bei den Medien keinen Stich bekommt? Die Art und Weise wie er gekürt wurde und wie lange dieser Vorstandsbeschluss seit Juli geheim gehalten wurde, spricht jedenfalls für eine Geschlossenheit und die Erkenntnis, nur mit Scholz aus dem Tal der Tränen kommen zu können. Sicher sind die Aussichten wahrlich nicht gut, aber sie bestehen und nicht nur die konservative FAZ sieht Scholz nicht chancenlos.
Das politische Umfeld jedenfalls ist auch nicht erdbebensicher. Angela Merkel, die Umfragekönigin der CDU, tritt nicht mehr an und wer Nachfolger wird, steht längst nicht fest. Armin Laschet hat sich nicht erst seit der Corona-Krise selbst demontiert, seine Mehrdeutigkeit ist – freundlich ausgedrückt-schon immer Bestandteil seines Wackelkurses gewesen. Auch Bayerns Markus Söder stutzt sich auf Normalmaß zurecht. Er, der fränkische Protestant, der sich öffentlichkeitswirksam inszeniert, an Fronleichnamsprozessionen teilnimmt, Kreuze in Amtsstuben aufhängt, mit der Kanzlerin auf dem Tegernsee weiß-blau schippert, dieser Markus Söder hat sich in der Art und Weise, wie er die Schuld an dem Corona-Testskandal in seinem Freistaat auf andere schob, selbst moralisch versenkt. Von ihm stammt ja der Satz, nur wer Krise kann, kann Kandidat werden. Ein Lorbeerkranz kann auch Dornen haben. Führung hat auch mit Haltung zu schaffen.
In der Union jedenfalls ist das Rennen noch längst nicht gelaufen und der Finanzberater Friedrich Merz hat immer bessere Chancen Kandidat zu werden, zumal – wie zu hören ist – Laschet auch im eigenen Landesverband nicht rückhaltlose Unterstützung hat.
Unabhängig davon, ob sich die FDP aus ihrem Umfragetief erholt und die Grünen trotz eines Führungsduos, welches in Sachfragen erhebliche Schwächen zeigt – mal, wie Im Fall Habeck, bei Wirtschaftsfragen, auch in der Coronakrise nur Vorwürfe zu hören sind oder, wie im Fall Baerbock, Kobolde nicht von Kobalt unterscheiden kann. Sauberes Klima, gesundes Essen und ein wenig Hedonismus alleine sind noch nicht Programm genug.
Was geschieht in diesem Land, wo steht Deutschland, welche Identität entwickeln wir nicht nur nach Innen sondern auch angesichts unserer zunehmenden internationalen Abhängigkeit auch nach Außen. Welche Rolle wollen wir spielen nach der Wiedervereinigung als europäische Großmacht nicht nur auf diesem Kontinent, in Minsk, Kiew, Moskau oder dem EU entrückenden London? Nicht nur am Hindukusch wird unsere Freiheit verteidigt, sondern auch im chinesischen Meer, in Peking oder einem Washington, wo hoffentlich nur noch kurze Zeit ein Donald Trump irrlichtert. Die SPD war immer eine internationalistische Partei. Ihre derzeitige Führung, die selbst wohl nur den Übergang organisieren will, wird sich in Zurückhaltung üben müssen, um wenigstens den Hauch einer Wahlchance wahrnehmen zu können. Sie könnte, um trotz aller Kritik in die Parteigeschichte einzugehen, einen gesellschaftlichen Dialog – ähnlich wie das Godesberger Programm – mit Bürgerinitiativen, Künstlern, Kirchen, Gewerkschaften, Jugend-oder Seniorenverbänden in Gang setzen, der den Vereinfachern/Polarisierern in dieser Welt die kulturellen, intellektuellen und sozialen Antworten einer freiheitlichen Demokratie geben kann. Es wäre geradezu eine bittere Ironie der Geschichte, wenn sich die älteste Partei dieses Landes, die am stärksten unter dem Unrecht reaktionärer Führungseliten gelitten hat, nicht den großen Herausforderungen eines nach der Einheit neuen Deutschlands stellen würde. Dieses Land kann nicht mehr auf der Schmalspur der alten Bundesrepublik fahren. Das ist eine Chance, auch für Olaf Scholz und seine SPD.
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