„Ich schildere die Situation, so wie sie ist, und sie ist schlimm.“ Das ist die Antwort von Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang auf die Frage der SZ-Redakteure Detlef Esslinger und Ronen Steinke: „Hat der Antisemitismus in Deutschland dramatisch zugenommen?“ Klarer kann man es nicht formulieren. Der Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes begründet sein Urteil „schlimm“ mit dem Satz: „Wenn mir jüdische Bürgerinnen und Bürger sagen, dass sie sich fragen, wann der Zeitpunkt erreicht ist, Deutschland zu verlassen- dass sie überhaupt schon an diesem Punkt sind: Dann ist die Lage schlimm.“ Ich habe vor Monaten über Bonn wie München und Berlin Ähnliches gelesen, die Angst jüdischer Mitbürger in Deutschland nimmt zu.
Als Leser der „Süddeutschen Zeitung“ erschrickt man, wenn man so etwas liest, schüttelt den Kopf, weil man meint, das Leben in Deutschland sei doch nicht so. Man schaut aus dem Fenster und sieht Jüngere wie Ältere vorbeigehen, Farbige, Asiaten, Frauen mit Kopftuch. Alles normal, oder?Deutschland ist bunter geworden. Aber das ist nur der oberflächliche Eindruck, auch wenn der von Zeitgenossen, mit denen man darüber spricht, bestätigt wird. Wer genauer hinsieht, hinter die Fassaden blickt, wer in die Zeitungen schaut und eben das Interview der SZ mit Thomas Haldenwang liest, der erschrickt. Ja, es gibt den zunehmenden Hass auf Juden, es gibt Hassbotschaften per Post, als E-Mail in allen Städten, von Nord bis Süd, von West bis Ost. Man muss nicht lange recherchieren, um im Netz fündig zu werden über das, was man in der Zwischenzeit wieder vergessen hatte: 75 Jahre nach dem Ende der Hitler-Diktatur, nach der Befreiung des letzten Konzentrationslagers in Dachau durch die Amerikaner, finden sich wieder NS-Symbole auf Grabstätten, Schmierereien an Wänden, wird der Holocaust geleugnet, muss sich fürchten, wer mit einer Kippa über die Straße geht. 75 Jahre danach, nach der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nazis beklagen Mitarbeiter in den KZ-Gedenkstätten, dass über die Juden gelästert, dass die Schoa geleugnet werde.
„Der alte Hass wird salonfähiger“. Hat der Chef des Verfassungsschutzes ferner gesagt. Man schämt sich, dass das so ist. In einer Rias-Statistik finde ich im Netz folgende Zahlen: Es gab 2019 in Bayern 178 antisemitische Vorfälle, in Berlin 881, in Brandenburg 138 und in Schleswig-Holstein 56 solcher Vorfälle. Keine Einzelfälle also. Man muss dem Präsidenten des Dienstes dankbar sein für seine klaren Worte, weil sonst kaum jemand zuhören würde. Viele Jüdinnen und Juden seien „häufig Beleidigungen, Bedrohungen, Attacken ausgesetzt.“ Wundert es, dass einige ihre Koffer längst gepackt haben. Nein, sie sind noch hier, zum Glück, sind Teil des Landes, aber dass sie sich fürchten, weil es wieder so werden könnte, wie es mal war, muss doch die Zivilgesellschaft zusammenzucken lassen. Nein, die Braunen sind noch nicht in der Mehrheit, sie regieren nicht das Land, aber eine Partei wie die AfD, deren einen Teil- Flügel genannt- man zumindest als parlamentarischen Arm des Rechtsextremismus bezeichnen darf, sitzt in allen Parlamenten.Dass die AfD pro forma diesen Flügel aufgelöst haben will, spielt meiner Meinung nach keine entscheidende Rolle. Björn Höcke ist schließlich weiter Mitglied der AfD, der Mann, der das Holocaust-Mahnmal in Berlin als Schande bezeichnet hat.
Dass unsere jüdischen Mitbürger, Deutsche jüdischen Glaubens, gelegentlich Angst verspüren, wenn sie angegriffen, wenn ihre Kinder in der Schule als „Jude“ beschimpft werden, ist doch mehr als verständlich. Im ersten Quartal des laufenden Jahres gab es 287 judenfeindliche Straftaten, im Jahr zuvor hatten die Verfassungshüter den höchsten Stand an antisemitischen Straftaten notiert. Ein trauriger Rekord. 2018 gab es einen Anstieg bei den rechtsextremistisch motivierten antisemitischen Straftaten von 71 Prozent, um weitere 17 Prozent nahm diese schlimme Entwiklung 2019 zu
Der Staat müsse dafür sorgen, dass jeder im Lande, der das wolle, eine Kippa trafen dürfe, ohne Angst zu haben. Wieder ein Zitat von Thomas Haldenwang. Er hat Recht, warum sollen Deutsche jüdischen Glaubens sich verstecken? Der Anschlag auf die Synagoge von Halle hat viele alarmiert, das ist war, aber die Alarmrufe sind längst verhallt. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte gemahnt, das Attentat habe auf das „Herz unserer Demokratie“ gezielt. Dass es nur zwei Tote gab, war glücklichen Umständen zuzuschreiben. Es war pures Glück, dass die Tür zum Inneren der Synagoge aus schwerer Eiche bestand und den Schüssen des Attentäters standhielt. Er hätte sonst ein Massaker angerichtet. Als er an der Tür scheiterte, erschoss er eine Frau auf der Straße und einen Mann an einer Döner-Bude. Das Ganze geschah am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur. Zur Zeit läuft der Prozeß gegen den Mann vor dem Landgericht in Magdeburg.
„Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich zugunsten der Antisemiten…Wir haben in den vergangenen Jahren viel zu sehr eine Kultur des Wegschauens und Weghörens akzeptiert.“ Stellt der Chef des Verfassungsschutzes fest. Die Zivilgesellschaft ist gefordert, die Mitschülerinnen und Mitschüler, die Lehrerinnen und Lehrer, die Eltern, die Arbeitskollegen im Betrieb, die Chefs, alle müssen sich einmischen, wenn jemand wegen seines Glaubens oder seiner Hautfarbe angegriffen oder verspottet wird. Die Zivilgesellschaft, das sind wir alle. So hat es mehrfach auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gesagt: Die Demokratie braucht Demokraten. Juden sind fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft, 100000 sind es inzwischen wieder geworden.Sorgen wir dafür, dass sie sich sicher fühlen und hier bleiben.
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