Es war ein „gespenstischer Traum“. Als sich Willy Brandt 1945 von Oslo aus aufmachte, um für das norwegische sozialdemokratische Arbeiterbladet über das zerstörte, aber befreite Deutschland zu berichten, ahnte er nicht, dass die Trümmerwüsten weit größer waren, als er sie in den Filmwochenschauen in Oslo und Stockholm wahrgenommen hatte. „Schreckliche Visionen“, Bilder, die ihn nachts zwischen Schlaf und Wachen überfielen und nicht losließen: Bilder der „Ruinen – jener auf den Straßen und jener in den Hirnen“.
Mit einer Maschine der Royal Airforce landete Brandt im Herbst 1945 in Bremen, um später als Kriegskorrespondent in norwegischer Uniform über die Nürnberger Prozesse zu berichten. Doch zunächst reiste er durch das Land. Von Bremen als erstes nach Lübeck, um endlich seine Mutter Martha Frahm wieder zu sehen, die ihn in der fremden Uniform erst gar nicht erkannte und dann zutiefst gerührt war.
Willy Brandt war schockiert, wie sehr seine Heimatstadt, die er so lange nicht gesehen hatte, von den Bomben der Alliierten 1942 zerstört, in Schutt und Asche lag. Die Bilder, die Ruinen begleiteten ihn auf seiner Erkundungsfahrt durch Deutschland. Noch war er sich nicht sicher, ob er in dieses Land auf Dauer zurückkehren wollte oder doch eher Skandinavien als endgültige Heimat annehmen werde.
Was er sah, was er in Deutschland erfuhr, was er für notwendig hielt, um insbesondere die Hirne von den Ruinen der Nazizeit zu befreien, beschrieb Willy Brandt, der 1940 nach seiner Ausbürgerung durch die Nazis die norwegische Staatsangehörigkeit angenommen hatte, ein Jahr später in einem Buch für seine skandinavischen Landsleute: „Ich nannte es ‚Forbrytere og andre tyskere‘: Verbrecher und andere Deutsche, im Sinne einer Gegenüberstellung von Verbrechertum und dem anderen Deutschland.“
Wer den Text heute liest, wird immer wieder überrascht sein. Da ist zum ersten die akribische journalistische Kleinarbeit, mit der Brandt bis ins Detail die Lebensbedingungen in Deutschland beschreibt: Von der Gesundheitsversorgung, den Wohnverhältnissen, der spärlichen Kalorienversorgung. „Es wäre jedenfalls ein zu billiger Trost zu sagen, dass es den Deutschen guttut zu hungern. Niemandem gut das gut. Das weiß jeder, der einmal gehungert hat“.
Brandt beschreibt eindringlich die unterschiedlichen Lebensbedingungen zwischen der zerstörten Städten und den vom Krieg nur wenig betroffenen ländlichen Regionen. Er schildert, dass die Not der Flüchtlinge, die alles andere als willkommen sind, besonders groß ist. Er zeigt auf, dass die Alliierten das Elend der von den Nazis ausgebeuteten Strafarbeiter beherzt bekämpft haben. Er ist erstaunt, dass die wenigen überlebenden Juden nicht sofort zum Verlassen Deutschlands bereit sind. Und er vermittelt seinen skandinavischen Lesern, dass bei allem Elend Deutschland auch kurz nach Kriegsende mehr Konsum zu bieten hat als Polen, Ungarn oder andere osteuropäische Länder, die von den Nazis besetzt worden waren. Er macht es daran fest, dass sich internationale Beobachter der Nürnberger Kriegsprozesse schon 1946 mit alltäglichen Gütern versorgen konnten, die es in ihren Heimatländern nicht gab.
Es ist eine dichte Sammlung von Fakten und Daten, die er zusammen getragen hat, obwohl das statistische Material, das ihm zur Verfügung stand, „sehr unvollständig“ war. Umso erstaunlicher, dass die Informationen, die er auf seiner gewiss nicht unbeschwerlichen Reise durch Deutschland zusammengetragen hat, noch heute als wichtige Quelle der damaligen Lebensverhältnisse dienen können.
Doch neben dem Journalisten schimmert in diesen Texten längst der Politiker Brandt durch. Er ist sich sicher, dass der Schutt der Ruinen in den Städten nach und nach verschwinden wird. Aber: „Der Schutt in den Gehirnen muss auch abgeräumt werden. Es handelt sich nicht darum, dem Nazismus beizukommen. Es gilt, eine lange nationalistische, militärische und rassistische Tradition zu überwinden. Das Ziel muss eine kulturelle Erneuerung im Geiste der Freiheit, der Toleranz und des Humanismus sein.“
Schon in diesem Stadium lehnt Brandt die These von der Kollektivschuld aller Deutschen ab, ist sich aber sicher, dass es eine Kollektivverantwortung gibt, wenn er schreibt:
„Die Deutschen müssen die Verantwortung tragen. Verantwortung ist jedoch nicht dasselbe wie Schuld.“
Oder an anderer Stelle:
„Nicht alle Deutsche gehören zu der Verbrecherbande, der ‚Deutsche‘ als solcher ist kein Verbrecher. Ich meine aber gleichzeitig, dass der deutsche Wiederaufbau niemals ein Neuaufbau wird, wenn man den Weg der Verantwortung und schonungslosen Aufrichtigkeit verlässt. Der Neuaufbau kann nicht mit Wunschdenken und Lügen beginnen. Und es wäre eine Lüge zu behaupten, dass den nazistischen Tätern und Folterknechten nicht von einem sehr großen Teil des Volkes der Rücken gestärkt worden wäre. Es würde der Wahrheit widersprechen, wenn jemand zu leugnen versuchte, dass ein zwölf Jahre währendes nazistisches Propagandamonopol starke Spuren im Bewusstsein der Deutschen hinterlassen hat. Es wäre Wunschdenken zu behaupten, eine bestimmte Gruppe oder eine Klasse sei gegen das nazistische Gift immun gewesen.“
Erstaunlich auch, dass in diesem Text schon die Themen auftauchen, die ihm später als SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzler selbstverständlich waren. Der Satz aus seiner ersten Regierungserklärung als Kanzler – „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ – liest sich 1946 so:
„Die Nazis versuchten, Europa zu verdeutschen. Jetzt kommt es darauf an, Deutschland zu europäisieren“.
Sein Verdikt aus der gleichen Regierungserklärung – „Die Schule der Nation ist die Schule“ – lässt sich 1946 schon ahnen, wenn er schreibt:
„Die deutsche Schule war ein Hort der Reaktion. Sie ist zwölf Jahr, dreizehn Jahre lang ein Werkzeug in der Hand der Nazis gewesen. Jetzt muss sie ein Geschlecht von freien und friedfertigen Bürgern erziehen“.
Wie gewaltig die „Ruinen in den Köpfen“ das Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre noch bestimmten, lässt sich auch daran festmachen, wie sein Text über „Verbrecher und andere Deutsche“ verunglimpft wurde. Obwohl – oder gerade weil – noch gar keine deutsche Übersetzung vorlag, wurde ihm unterstellt, nahezu das ganze Volk als Naziverbrecher gebrandmarkt zu haben. Noch in den achtziger Jahren sprachen Rechtsnationale von einem „Skandalbuch“ und initiierten erneut eine Schmutzkampagne gegen ihn. Nichts Neues. Schon in den fünfziger Jahren musste sich Brandt gegen solche Angriffe wehren.
„Willy Brandt hat versucht“, schreibt Einhart Lorenz 2007 im Vorwort zu der von ihm edierten Neuausgabe des Buchs, „sich mit Hilfe von einstweiligen Verfügungen und Strafanzeigen gegen die Kampagnen zu wehren. So kam es in den Jahren von 1955 bis 1966 zu 80 Verfahren, doch konnten die gewonnenen Prozesse nicht die negative Wirkung von Verleumdungen, Gerüchten und einseitigen Darstellungen seiner früheren Äußerungen rückgängig machen“.