Die globale Ausbreitung des Corona-Virus zeigt die Verletzlichkeit des menschlichen Lebens. Sie verändert die Wirklichkeit radikal.
Heute trifft die Pandemie alle Länder und damit unseren Planeten insgesamt, während früher die Folgen derartiger Krankheitserreger meist regional begrenzt blieben. Doch mit der Globalisierung der Märkte verschmilzt unsere Welt zu einem einzigen Ort, der sich nun, um globale Prozesse zu verlangsamen, mit geschlossenen Grenzen abzuschotten sucht. Doch das ist keine Lösung.
Eine Assoziation zum Corona-Virus bietet sich beim anthropogenen Treibhauseffekt an: Bereits 1992 deutete der damalige amerikanische Vizepräsident Al Gore auch den Klimawandel als einen planetarischen Virus, der die Gaia, die Mutter Erde, unfähig macht, ihr Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. In diesem Bild zerstört die Anreichung der Treibhausgase die Immunität der Erdatmosphäre und damit eine wesentliche Voraussetzung des menschlichen Lebens.
Die globale Erwärmung ist das Fieber, das die Krankheit hochtreibt. Je stärker das Virus die Stoffwechselprozesse der Erde kontaminiert, desto verzweifelter werden die Anstrengungen der Menschen, das eindringende Virus zu bekämpfen. Deshalb: Wir müssen heute handeln.
Coronakrise und Erderwärmung machen die neuen strategischen Bedrohungen der schnell zusammenwachsenden Welt deutlich. Sie sind eine Folge der permanenten Modernisierungsprozesse, die vom ökonomischen Verwertungszwang und auch von technischer Radikalität vorangetrieben werden. Die Folgen führen zu einer permanenten Erweiterung von Arbeitsteilung, Ausdifferenzierung, Beschleunigung, Rationalisierung und Internationalisierung. In der globalen Marktgesellschaft werden Zeit und Raum immer mehr entgrenzt.
Was dabei für sich allein noch schlüssig erscheint, wird als Ganzes zunehmend problematisch, aber nur schwer zu stoppen. Wir dürfen der Erkenntnis nicht länger ausweichen, dass die moderne Zivilisation in einer tiefen Krise steckt. Zu verhindern, dass diese Prozesse eines „fehlgeleiteten Anthropozentrismus“ (Laudato Si‘) menschliches Leben zerstören, erfordert mehr als eine Erweiterung oder Ergänzung des bisherigen Modells von Wirtschaft und Gesellschaft. Und noch viel mehr als den nachträglichen Versuch, die Auswirkungen zu begrenzen.
Tatsächlich ist das Corona-Virus ein Warnschuss vor den Bug der Selbstgewissheit moderner Gesellschaften. Wir stehen vor der Wahl: Entweder kommt es schnell zu einer sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation, die nach dem Leitbild der Nachhaltigkeit eine gemeinsame Zukunft formt. Oder die weitere Entwicklung steuert unsere Zukunft chaotisch, schmerzhaft und unerbittlich. Tiefe Brüche und schwere Verwerfungen wären die Folgen.
In dieser schwierigen Situation wäre eine politisch-demokratische Führungslosigkeit eine der größten Bedrohungen. So wie das beim anthropogenen Klimawandel schon viel zu lange der Fall ist. Aber jetzt wächst unter dem Druck der Corona-Krise die Gefahr, den planetarischen Klimavirus wieder zu verdrängen. Drei Schlussfolgerungen sind von zentraler Bedeutung:
- Um in der globalen Welt zu mehr politischer Handlungsfähigkeit zu kommen, ist die Regionalisierung der Globalisierung notwendig. Die muss die Regionen stärken und ein politisches Gleichgewicht zwischen den großen Wirtschaftsräumen, Kontinenten und Unternehmen schaffen. Dann können neue soziale und ökologische Schutzschichten aufgebaut werden.
- Die Politik darf sich nicht den Zwängen der globalen Märkten unterordnen, die das wahrscheinlich mächtigste Werkzeug sind, das von der menschlichen Zivilisation geschaffen wurde. Ohne politische Kontrolle sind sie unvertretbar, andernfalls destabilisieren sie die Welt.
- Der Glaube, wir könnten die Natur nach Belieben nutzen, ist eine fundamentale Fehleinschätzung, die uns mit in die Krise geführt hat. Den cartesianischen Zugang zur menschlichen Geschichte zu korrigieren, ist die wichtigste Aufgabe für eine friedliche, gerechte und gesunde Welt.
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Erstveröffentlicht in: Klimareporter. Tacheles, Michael Müller! 31.3.2020