Es ist nicht lange her, da gab es dieses Foto von Ursula von der Leyen, wie sie in einem Helicopter über das Drama an der griechisch-türkischen Grenze flog. Es ist ein eindrucksvolles Bild, das die EU-Kommissionspräsidentin in Sorge und vollster Entschlossenheit zeigt. Die Hoffnung wurde geweckt, dass die Mittelmeerländer mit der neuerlichen Flüchtlingskrise nicht alleine gelassen werden.
Ein Lernprozess schien auf – man rechnete im Debattierklub EU mit einer schnellen Reaktion, dies auch im Sinne all der Menschen, die wieder neu vor unserer Türe stehen. Selbst hinsichtlich des harten Wortes Grenzschutz keimte die Erwartung, dass die in der Bankenkrise so hart getroffenen Griechen durch Frontex (Europäische Agentur für Grenzschutz und Küstenwache) unbürokratisch unterstützt werden würden. Auch die Situation auf der Insel Lesbos, wo überlastete Einheimische um Hilfe riefen, fräste sich mit Dringlichkeit in unserer Wahrnehmung ein. „Wir werden Einigkeit beweisen“, sagte von der Leyen damals. Wir mochten ihr nur zu gerne glauben.
Vereint ohne Einigkeit
Damals, das war vor vier Wochen. Doch es ist eine gefühlte Ewigkeit her, eine andere Zeitrechnung, weil die Welt wenige Tage später monothematisch wurde. Die Corona-Krise diktiert seither unser Leben. Und um es vorwegzunehmen: Noch bevor die am Grenzfluss Maritza gestrandeten Flüchtlinge mit Bussen zurück ins Landesinnere der Türkei geschafft wurden, war Frontex gerade in Gang gekommen. Doch wie viele Polizisten aus welchen EU-Mitgliedsstaaten dort im Einsatz waren – wer das genau wissen wollte, musste konkret danach suchen. In den Medien wirkte es so, als seien den großen Worten keinerlei Taten gefolgt, als würde das Thema unter den Teppich gekehrt. Für Lesbos ist das leider auch zutreffend. Denn noch heute (Stand: 04.04.) sitzen mehr als 40.000 Menschen in den überfüllten Lagern fest, während die EU peinlich endlos um eine gemeinsame Position in der Flüchtlingsfrage ringt. Die träge Masse dieses fragilen Staatenbundes, der seine Identität immer noch sucht, ist also gar nicht bzw. nur schleppend zur Selbsthilfe angerollt. Am Ende war es der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der den Druck aus dem Kessel genommen und die EU dabei vorgeführt hat.
Solidarität vs. Egoismus
Die Situation an der griechisch-türkischen Grenze war fast schon vergessen, als die Infizierten-Zahlen in Italien in die Höhe schossen, ganze Ortschaften unter Quarantäne gestellt wurden. In Frankreich, Österreich und Spanien ging es ebenfalls los, während Deutschland noch fröhlich Karneval feierte. Man hatte das Virus zwar im Hinterkopf, aber irgendwie war Italien plötzlich weit weg. Dass die Luftlinie von Venedig nach München um einiges kürzer ist als diejenige von München nach Frankfurt am Main – eine Moderatorin des öffentlich-rechtlichen Frühstücksfernsehens fühlte sich jedenfalls aufgefordert, ihre morgendlichen Zuschauer daran zu erinnern. Das Gesundheitssystem in Norditalien stieß bald an seine Grenzen, und im geografisch noch näheren Elsass-Lothringen fehlten plötzlich Krankenbetten für Intensivpatienten. Da fragten wir uns als Anhänger der Europäischen Idee doch schon wieder, wo die starke solidarische Geste aus Brüssel eigentlich bleibt, die Unterstützung für das eigene Haus? Und wenn schon Brüssel nicht reagierte, konnte dann nicht wenigstens das finanzstarke Deutschland mit seinem hochgelobten Gesundheitssystem unaufgefordert in die Bresche springen und Kranke aus den Nachbarländern zu uns herholen? Susanne Johna, die Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, äußerte sich im SWR2: „Wir haben zurzeit noch Intensivkapazitäten und auch reichlich Kapazitäten auf den Normalstationen.“ Trotzdem passierte nichts, außer dass die Grenzen zugingen und viele Deutsche wieder anfingen, sich für die eigene Überheblichkeit zu schämen, die uns nicht steht und Europa in letzter Konsequenz auch kaputtmachen kann!
Frankreich und Italien – Lieblingsurlaubsländer wurden vernachlässigt
Dies alles geschah unter dem unverhohlenen Applaus der AfD, die die Grenzkontrollen als größte Errungenschaft der Corona-Krise feiert. Die Rechtspopulisten in Frankreich wiederum kritisierten jüngst, dass die französische Luftwaffe Covid-19-Patienten aus überlasteten Krankenhäusern im Elsass u.a. nach Bordeaux ausfliegen musste, anstatt sie auf dem Landweg wenige Kilometer über den Rhein nach Freiburg oder Karlsruhe bringen zu können. Ein typisch deutscher Egoismus sei das. An dieser Stelle muss betont werden, dass es durchaus schon Aufnahmen von französischen Corona-Kranken in Deutschland gegeben hat und in verschiedenen Bundesländern auch weiterhin geben wird. Allerdings hat Baden-Württemberg trotz vorhandener Kapazitäten seit einigen Tagen keine elsässischen Patienten mehr aufgenommen.
Neben China ist Kuba der Helfer in der Not
In Italien ist die Stimmung noch schlechter, dort wurden bereits schon Europaflaggen verbrannt. „Wir Italiener sind mit den Nerven am Ende. Fast jede Familie in Norditalien hat schon einen Angehörigen verloren, und der Unmut gegen Deutschland wächst“, sagt Dottoressa Lucilla Rigobello, die in Frankfurt am Main eine Sprachschule betreibt und wechselweise in Deutschland und ihrer Heimatstadt Bassano del Grappa im von der Pandemie besonders betroffenen Venetien lebt. Ein Gefühl des Alleingelassenseins treibe ihre Landsleute um, was nicht verwundert, denn Deutschland hat seine Hilfe sehr spät erst gezeigt. Ein Händchen voll Schwerstkranker wurde nach Sachsen ausgeflogen, es folgte ein Dutzend weiterer Patienten, die in Niedersachsen untergebracht wurden. Und ja – seither wurden und werden es immer mehr, womit Deutschland im sonst so engen Verhältnis der beiden Länder inzwischen zu retten versucht, was noch zu retten ist. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Außenminister Heiko Maas hatten ebenfalls Initiative gezeigt. Maas verkündete gar unter der italienischen Flagge: „Wir stehen an der Seite unserer Freundinnen und Freunde.“ Die enttäuschten Italiener freuen sich derweilen mehr über Ärzte und Hilfsgüter aus China und Kuba.
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!
Warum die Reaktionen aus Deutschland so spät kamen, das hat vielleicht mit der Tatsache zu tun, dass es in solchen Notfällen durchaus „normal“ ist, zuerst einmal die eigene Situation zu stabilisieren und dann auch zu schützen. Dass im kleinen Westeuropa jeder von jedem abhängig ist und die Schwäche eines Partnerlandes morgen eine eigene Krise auslösen kann, wurde jedoch auf den zweiten Blick erst bemerkt. Darüber hinaus ist Deutschland auch deshalb so sehr mit sich selber beschäftigt, weil die föderale Struktur für viel Durcheinander sorgt. Ein jedes Bundesland geht anders mit der Krise um, ja sogar Landkreise und Kommunen können unterschiedlich handeln. Im Ausland wird diese Uneinigkeit auf Ebene der Bundesländer als ein ständiges Drehen um die eigene Achse wahrgenommen.
Mehr Mut und Einigkeit für die Zukunft
Wie es mit Europa nun weitergeht, das wird maßgeblich auch davon abhängen, ob die Bundesregierung sich dazu entschließen kann, ihren Widerstand gegen die sogenannten Euro-/Corona-Bonds (gemeinsame Geldaufnahme im Währungsraum plus gemeinsamer Haftung dafür) aufzugeben, respektive ob eine andere Lösung gefunden wird, die alle Seiten zufriedenstellt. À la longue wird sich Deutschland, das die Währungsunion ja wollte und vorangetrieben hat, mit den unangenehmen Seiten der Medaille anfreunden müssen. Also worauf warten, wenn alle Signale förmlich nach einer gemeinsamen Lösung schreien? Und wie meinte der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte dieser Tage im Wochenmagazin „DIE ZEIT“: „Wenn wir eine Union sind, dann ist jetzt der Zeitpunkt, dies zu beweisen.“
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