Die SPD startet nach ihrer Neuaufstellung auf dem hoffnungsfrohen Berliner Parteitag relativ holprig ins neue Jahrzehnt: Nach dem aktuellen Deutschlandtrend der ARD liegt die CDU/CSU leicht verbessert bei 27 Prozent, die SPD stagniert mit fast unglaublichen 13 Prozent weiter am Abgrund und die Grünen etablieren sich mit 23 Prozent stabil über der 20 Prozentmarke. Dazu kommt eine inzwischen stattliche Reihe von Bundesländern, in denen die Umfragewerte der SPD längst unter der 10-Prozent-Kellerdecke liegen. Eine schwierige Situation also für das neue Vorsitzenden-Duo Saskia Esken/ Norbert Walter- Borjans, die sich in den letzten Wochen rührig mit zahlreichen markanten Wortmeldungen und programmatischen Vorschlägen in die Bundespolitik eingeführt haben.
Die Vorgeschichte des Dramas
Politische Dramen haben immer auch eine Vorgeschichte, hierzu ein kleiner Rückblick: Franz Müntefering ist ein herausragend authentischer Sozialdemokrat mit einer enormen politischen Leistungsbilanz. Doch sein berühmter, wie immer knapper Satz „Opposition ist Mist“ trifft im politischen Leben eben nicht immer zu und ist zudem in einer parlamentarischen Demokratie auch staatspolitisch leichtfertig. Hätte sich die SPD 2005 nach dem Ende der Rot-Grünen Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder konsequent dem Eintritt in eine Große Koalition unter Angela Merkel verweigert, würde die politische Struktur Deutschlands heute wohl anders aussehen. Und ich behaupte: Wir hätten heute bei einem dadurch größeren Gewicht der Volksparteien sicher eine kleinere oder sogar überhaupt keine AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Diese Überlegung gilt übrigens auch verstärkt für die durchaus mögliche Ablehnung einer Großen Koalition 2013.
Schon 2005 Option für Jamaika
Bei einer 2005 konsequent durchgehaltenen Position der Sozialdemokraten, nach einer extrem knappen Wahlniederlage Gerhard Schröders nicht in eine Große Koalition unter Angela Merkel einzutreten, hätte damals schon, nach einem sicherlich schwierigen Vorspiel, doch eine realistische Option auf eine Jamaika- Koalition bestanden. Schließlich war Christian Lindner mit seiner ausgeprägten Merkel-Skepsis noch nicht der entscheidende Mann in der FDP, sondern ein Guido Westerwelle, der mit der damaligen CDU-Vorsitzenden äußerst gut konnte. So kam es dazu, dass die SPD unter einem regierungsfreudigen Parteivorsitzenden Müntefering auch weiterhin Regierungspartei blieb – wenn auch in der reduzierten Rolle des Juniorpartners. Es galt ja das Prinzip: „Opposition ist Mist“.
Durchgequälte „GroKos“ gegen grüne kulturelle Dominanz
Diese Fehleinschätzung der Möglichkeiten einer zentralen und aktiven Oppositionsrolle im demokratischen Parlamentarismus hatte zur Folge, dass wir heute nicht wissen, welche Innovationen vielleicht eine konservativ-liberale Regierungskooperation mit den Grünen 2005 für Deutschland in der politischen Realität ausgelöst hätte. Stattdessen kam es als Folge inzwischen zu drei „GroKos“, durchgequält gegen die Dominanz zahlreicher grüner Multiplikatoren, vor allem in Medien und Kultur. Dazwischen lag nur eine schwarz-gelbe Unterbrechung von 2009 bis 2013. Inzwischen sind diese Entscheidungen Geschichte und können nicht nachträglich durch rein taktische, für den Wähler durchschaubare Fluchtbewegungen aus der bestehenden „GroKo“ rückgängig gemacht werden.
Rolf Mützenich hat Recht: Verantwortungsvolle Gestaltung der vollen Legislaturperiode
Natürlich haben alle drei „GroKos“ trotz berechtigter Kritik insgesamt eine grundsolide Regierungsarbeit aufzuweisen, die vor allen Dingen auch positiv durch die sozialdemokratische Ressortarbeit zustande kam. Wichtige Stichworte sind hier zum Beispiel Mindestlohn, Rente mit 63, Mütterrente, Verbesserung bei der Leiharbeit und ganz aktuell die schon vereinbarte Grundrente oder die angestrebte Rückkehrmöglichkeit von Teilzeit- in Vollzeitarbeit. Dies sind alles sicherlich Punkte, die das Leben von Millionen Menschen erleichtern können. Man kann daher dem Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich nur voll zustimmen, wenn er darauf setzt, die eingegangene Koalition mit der Union bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 programmatisch offensiv, aber verlässlich und verantwortungsvoll für die Zukunft des Landes zu gestalten. Jegliche Trickserei in dieser Frage führt zu einem irreparablen Vertrauensverlust.
Gefährliche Ambivalenz erfolgreicher Regierungsarbeit als dreimaliger Juniorpartner
Da sozialdemokratische Ressorterfolge natürlich immer von der gesamten Regierung beschlossen und durchgesetzt werden, sind sie in der Wählerschaft immer folgerichtig als gemeinsame Regierungsleistung wahrgenommen worden und haben auch weiter das persönliche Ansehen der Regierungschefin Angela Merkel gestärkt. Gleichzeitig führten diese unbestreitbaren gemeinsamen Erfolge einer so langjährigen Gemeinsamkeit zur Abschleifung der für die Wählerschaft wahrnehmbaren politischen Profile beider Volksparteien. Dies ist die unvermeidbare Ambivalenz der sozialdemokratischen Erfolge als Juniorpartner in drei „GroKos“. Insbesondere die SPD hat die daraus resultierende starke Schrumpfung beider Volksparteien inzwischen in eine ruinöse Abwärtsspirale getrieben, die sie existenziell in Frage stellt.
Strategie der neuen Parteiführung und demoskopische Resonanz
Die deutsche Sozialdemokratie versuchte sich gegen diesen Trend verzweifelt mit einem monatelangen „Paarwettlauf“ an der Parteibasis um die Nachfolge der zurückgetretenen Parteivorsitzenden Andrea Nahles zu stemmen. Die von den neuen Parteivorsitzenden Esken und Walter-Borjans inzwischen eingeschlagene Strategie eines begrenzten programmatischen Konflikts mit der Union, die gleichzeitig koalitionspolitische Verlässlichkeit mit politischen Richtungskonflikten koppeln will, hat insgesamt bisher trotz aller Bemühungen noch zu keiner erfolgsversprechenden Stärkung der Wertschätzung im demoskopischen Bild geführt.
Die verbliebene Anhängerschaft der SPD ist inzwischen ungefähr hälftig in der Frage gespalten, ob Esken und Walter-Borjans als neue Vorsitzende wieder mehr Rückhalt für ihre Partei erreichen werden. Das Gesamtbild sieht noch ungünstiger aus: 70 Prozent denken nicht, dass es der SPD unter der neuen Parteiführung gelingt, wieder mehr Bürgerinnen und Bürger von sich zu überzeugen. Das sind schwierige Aussichten.
Mehrheitlich besorgniserregende Einschätzungen der Lösungskompetenz
Viel besorgniserregender für die neue Parteiführung ist jedoch das demoskopische Bild bei der Lösungskompetenz in wichtigen Sachfragen. Zwar setzen auf die Union beim Thema Umwelt- und Klimapolitik aktuell nur 14 Prozent der Wählerschaft, die SPD unterbietet sie aber mit gerade noch 5 Prozent Vertrauen. 53 Prozent setzen dagegen hier auf die Grünen. Dabei stellt die SPD die durchaus rührige Umweltministerin Svenja Schulze.
Schlimm ist auch das Kompetenzgefälle zwischen Union und SPD in der von Heiko Maas verantworteten Außenpolitik (41:18 Prozent), in der Wirtschaftspolitik (42:9 Prozent), bei der inneren Sicherheit (46:9 Prozent), auf dem Feld der Terrorbekämpfung (46:7 Prozent). Die SPD schneidet im Kompetenzurteil besser als die Union lediglich in der von Franziska Giffey bearbeiteten Familienpolitik (30:21 Prozent), beim Einsatz für angemessene Löhne (30:19 Prozent) und bei bezahlbarem Wohnraum (25:17 Prozent) ab. In der hier zum Ausdruck kommenden meist schwachen Lösungskompetenz der SPD im Kontrast zur Union in den für die Wählerschaft entscheidenden Zukunftsfragen liegt die Hauptaufgabe, wenn die SPD wieder in die Volksparteirolle kommen will.
Harte Wahrheiten für 2020
Das alles signalisiert für die SPD eine weiterhin schwierige Herausforderung zum Jahresbeginn 2020. Schon am 23. Februar geht es in Hamburg für die Sozialdemokratie um die Behauptung der politischen Führungsrolle. Nach den 45,6 Prozent von Olaf Scholz bei den Bürgerschaftswahlen 2015 findet nach der letzten NDR-Umfrage inzwischen ein Kopf an Kopf Rennen zwischen SPD und Grünen mit jeweils 29 Prozent statt. Ein weiterer Stresstest für die SPD sind die bayerischen Kommunalwahlen am 15. März auf kargem Boden und dann schließlich der psychologisch entscheidende Vorwahltest für das Bundestagswahljahr 2021 durch die Kommunalwahl in NRW, der früheren sozialdemokratischen Herzkammer am 13. September. Schließlich ist Nordrhein-Westfalen die jahrzehntelange politische Basis für den neuen Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans. Für ihn persönlich aber auch genauso für Saskia Esken sowie die gesamte Sozialdemokratie wird das neue Jahr auch zum Schicksalsjahr. Das sind harte Wahrheiten für 2020.
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