Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. Seine erste Regierungserklärung am 21. Oktober 1969 wurde so etwas wie ein zweiter Gründungsakt für eine Bundesrepublik Deutschland, die 1949 mit starker Westbindung die europäische Tagesordnung mitbestimmen konnte. Es war der Beginn einer Entwicklung, die der postfaschistischen Nachkriegsgesellschaft mit seiner Forderung „Mehr Demokratie wagen“ und der Willensbekundung „Wir fangen erst richtig an“ die Leitidee verordnete, mit der Nachkriegszeit überwunden und ein neues friedenspolitisches Kapitel aufgeschlagen wurde.
Mit Mut und großer Ausdauer begann das, was mit der Politik der „kleinen“ Schritte eingeleitet wurde, die der Antifaschist Brandt wagte, und die er mit seinem Kniefall in Warschau für die ermordeten Juden des Warschauer Ghettos zum Ausdruck brachte. Die Ostverträge, und das Gewaltverzichtsabkommen mit Moskau, brachten die erhoffte Annäherung und Aussöhnung auch nach Osten und kennzeichneten das Sozialdemokratische Zeitalter, das er mit seiner Friedenspolitik einleitete.
Zugleich war Brandt ein Erneuerer der SPD, was auch heute wieder auf der Tagesordnung steht. Es wird sich zeigen, ob die 23 Regionalkonferenzen, in denen sich acht Doppelspitzen vorgestellt haben, die personelle Antwort bringen, die sich die SPD davon erhofft. Wen immer im Dezember der Parteitag der SPD und die Delegierten auf den Schild heben, sie werden den Mut haben müssen, den Verbleib oder die Kündigung der Großen Koalition schlüssig zu begründen. Dabei geht es auch um Antworten auf die aktuellen Schieflagen in der Gesellschaft.
Es geht auch um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), um Halle, „blood § honour“ und die Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden, einige hundert Haftbefehle gegen Rechtsextremisten zu vollziehen, die sich in den Untergrund abgesetzt haben, und es geht seit dem Mauerfall um 180 Todesopfer rechtsextremer Gewalt. Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten durch einen geständigen Neonazi, und tägliche Bedrohungen von Kommunalpolitikern und anderen im Netz, die sich gegen den rechten Extremismus wehren, machen die Bedrohung für die demokratische Ordnung und den Rechtsstaat deutlich. Schon jetzt gibt es 12 500 rechte Straftaten in diesem Jahr.
Gleichzeitig erleben wir den Raubzug der ökonomischen Eliten an der Spitze der Konzerne, die sich mit Boni und „Erfolgshonoraren“ bereichern oder die sich Millionen Euro Jahresrente einverleiben,, während die Politik sich für die die Grundrente nicht einigungsfähig zeigt, wachsende Altersarmut zu bannen. In Berlin sind 30 000 Menschen ohne eigenen Wohnraum und bei Verwandten und Freunden untergekommen, weil sie sich die Mieten nicht leisten können, die durch die Decke gehen. Endlich verkündet der Senat einen Mietendeckel für die Stadt, der den Namen verdient. Auch das Klima und die Klimafolgen gehören ganz vorn zu den großen politischen Herausforderungen, die auf Antworten warten.
Das Land braucht offenkundig nach Brandt den Mut nach dem zweiten einen erneuten dritten Gründungsakt anzustreben, der den argumentativen Streit um den künftigen Weg als demokratische Tugend erneuert. Wie wichtig wäre sein Wort heute: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an“. Bliebe dagegen eine politische Antwort der Sozialdemokratie in der Koalition mit der Union heute weiter unerkennbar, wird der Versuch ihrer Erneuerung scheitern. Es geht um ein Deutschland ohne Rückfall in nationalen Egoismus, und um einen sichtbaren sozialdemokratischen Wegweiser für ein soziales Europa, das als Friedensmacht seinen Weg geht.
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