Nur Peter Bofinger als einer der „Fünf Weisen“ des Sachverständigenrats hat hinreichend erkannt, dass die starke deutsche Wirtschaft nur dann nachhaltig florieren kann, wenn auch die Krisenländer der Eurozone wieder auf die Beine kommen. Insofern hat die erdrückende Mehrheit der „Fünf Weisen“ eine sehr beschränkte Sicht auf unser zentrales ökonomisches Dilemma in Deutschland und Europa.
Groteskes Medienritual
Seit Monaten weiß jeder, dass auch in Deutschland die Konjunkturdaten schwächeln und die Wachstumsraten der Realwirtschaft rückläufig sind. Aber die deutschen Leitmedien verkünden am Tag der Übergabe des Jahresgutachtens an die Bundesregierung „vorab und exklusiv“ als große Sensation, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2014 nur noch um 1,2% und 2015 um 1,0 Prozent wachsen wird und dass das Gutachten im Klartext gesprochen alle sozialen Prunkstücke des Schwarz-Roten Koalitionsvertrags attackiert.
Der beschränkte Horizont von „4 Weisen“
Es ist sicher richtig, dass die sozialen Wohltaten des Koalitionsvertrags langfristig zu erheblichen finanziellen Mehrbelastungen führen werden und auch die verabredeten arbeitsmarktpolitischen Korrekturen im Zielkonflikt mit der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes stehen. Aber niemand kann doch im Ernst annehmen, dass ein Verzicht auf diese Maßnahmen und statt dessen der feste abstrakte Glauben in den Gutachtenstitel „ Mehr Vertrauen in Marktprozesse“ schon alleine den Abschwung der deutschen Wirtschaft verhindert hätte
Ein wohlfeiler, immer unbestreitbarer Marktglaube reicht nicht aus, wenn in der Eurozone rezessionsgepeinigte Krisenländer, zu denen verstärkt auch große Volkswirtschaften wie Italien und Frankreich gehören, zum massiven Sparen gezwungen werden und dann auch Deutschland nur noch auf die „Schwarze Null“ im Haushalt als dem ästhetischen Höhepunkt für das erfolgreiche Wirken jedes Finanzministers fixiert ist. Dies jedoch um den Preis, dass in der stärksten Volkswirtschaft Europas inzwischen schon jahrelang eine riesige Investitionslücke klafft.
Woher soll eigentlich unter solchen Bedingungen auf der ökonomischen Nachfrageseite in Europa noch ein kräftiger Aufschwung kommen, wenn wir gleichzeitig eine wachsende Unterauslastung in den Unternehmen beklagen? Peter Bofinger, der „Fünfte Weise“, kritisiert zurecht: „ Das heißt, unsere Ersparnisse fließen überwiegend in niedrig verzinste Kredite im Ausland statt in Investitionen im Inland“. Und dabei verrottet die deutsche Infrastruktur als bisherige Stärke unseres Standorts. Deshalb ist, neben dem immer lobenswerten Glauben in den Markt, in einer starken sozialen Marktwirtschaft eben auch politisches Handeln dringend notwendig – und dies sowohl investitions- als auch verteilungspolitisch. Ansonsten zerbricht die Eurozone trotz unseres großen Stolzes auf die wachsenden deutschen Export- und Leistungsbilanzüberschüsse. Wenn diese Zusammenhänge von vier der „Fünf Weisen“ angesichts der fortgeschrittenen ökonomischen Verflechtung Europas nicht hinreichend berücksichtigt werden, muss man ernsthaft von einem beschränkten ökonomischen Horizont sprechen.
Das welke Märchen vom Aufschwung
Denn ein Gespenst geht heute um in Europa, das Gespenst der Deflation. Es ist ein Gespenst, das der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, geldpolitisch schon längst antizipierte, als die Spitze der Deutschen Bundesbank noch unter großem heimischem Applaus vor bedrohlichen Inflationsgefahren warnte.
Die EU ist von einem früher international beneideten ökonomischen Modellprojekt inzwischen zum Bremsklotz der Weltkonjunktur geworden. Und deshalb ist die wachsende Kritik unserer globalen Partner verständlich: In Berlin und Brüssel erzählte man jedes Jahr das permanente Märchen vom kurz bevorstehenden Aufschwung. Doch im nächsten Jahr wurde dann der angekündigte „turn around“ der Eurozone stereotyp wieder in die Zukunft vertagt. Inzwischen glaubt in Brüssel, Berlin und weltweit niemand mehr an dieses welke Märchen vom Aufschwung.
Die Wahrheit ist doch, dass es in der Eurozone insgesamt nach dem Ausbruch der Krise in Griechenland 2010 kein nennenswertes Wachstum mehr gab, sondern nur noch ein volatiles „Kriechtum“ entlang der Null-Linie – phasenweise oberhalb oder unterhalb der Null-Kante. „The same procedure as last year“. Mit der puritanischen Hoffnung auf ökonomische Belohnung durch jahrelange Reformbereitschaft und Enthaltsamkeit startete die europäische Wirtschaft auch ins Jahr 2014 – insbesondere Deutschland ging hoffnungsfroh mit einer deutlichen Belebung im 1.Quartal voran. Doch im 2.Quartal ging dem überall ausgerufenen europäischen Aufschwung schon wieder bis heute die Luft aus, wobei insbesondere das vielgepriesene konjunkturelle Zugpferd Deutschland längst vor dem Gutachten des Sachverständigenrats sichtbar lahmte.
Ursachen der Stagnation
Das große Heer der professionellen Wirtschaftsexperten erklärte sich die eigenen Fehlprognosen daraufhin aus der nachhaltigen Verlangsamung des Wachstums der BRIC-Staaten, insbesondere Chinas. Zudem verlagerte sich ja gerade der Reform-und Einspardruck des europäischen Krisenmanagements in der Eurozone stärker auf die größeren Volkswirtschaften Frankreichs und Italiens.
Dabei ist es nicht der Druck ordnungspolitischer und administrativer Strukturreformen in den Krisenländern, sondern der permanente massive Nachfrageausfall durch den einseitigen sparpolitischen Austerity-Kurs in der Eurozone, der die Stagnation verstärkt und eine positive Trendwende blockiert. Das europäische Dilemma ist: Soweit die EZB angesichts einer sich schon bedrohlich der Nullgrenze angenäherten Inflationsrate neues billiges Geld in den Finanzkreislauf pumpte oder demnächst pumpen will, finanziert diese zusätzliche Liquidität unter der Rahmenbedingung der Austerity-Politik nicht über neue Unternehmenskredite zusätzliche Investitionen, sondern beflügelt nur die Spekulation auf den Finanzmärkten oder die Blasenbildung im Immobiliensektor. Unter den Bedingungen des europaweiten einseitigen Sparkurses saufen – frei nach Karl Schiller – die Pferde der Realwirtschaft einfach nicht.
Ein weiterer neuer Bremsfaktor wurde zuerst verniedlicht und dann bis heute politisch heruntergespielt: Die breite indirekte Bremswirkung der Sekundäreffekte des Sanktionskatalogs gegen Russland innerhalb unserer eigenen Wirtschaft. Sie übertrifft den direkten Effekt der punktuellen ökonomischen Strafmaßnahmen um ein Vielfaches. Im Berliner Regierungsviertel redete man zwar naiv nur von der gezielten Trefferwirkung der Sanktionen in der russischen Wirtschaft. In Wahrheit hat sich aber daraus vor allem wirtschaftspsychologisch eine beidseitige Eskalation ökonomischer Selbstverstümmelung entwickelt. Kabarettisten könnten dazu auch sarkastisch jubeln: „Hurra, wir haben den Aufschwung geschrumpft“.
Kürzung der Prognosen für die Eurozone
Der Rest der Geschichte ist bekannt. Die EU-Kommission reduzierte letzte Woche ihre Wachstumsprognose für die Eurozone auf gerade mal 0,8% für das Gesamtjahr 2014 –und das mit der pessimistischen Anmerkung, dass alles noch schlechter kommen könne. Für Deutschland diagnostizierte die Kommission sogar, dass die stärkste europäische Volkswirtschaft „am Rande der Rezession entlang“ schlittere. Der deutsche Sachverständigenrat zog mit seiner aktuellen „sensationellen“ Prognose also nur noch nach. Erstmals räumte die EU-Kommission sogar ein, dass die Länder der Eurozone innerhalb der EU besonders schlecht dastehen. Dies ist ein eindeutiges Indiz für das Scheitern des bisherigen europäischen Krisenmanagements, das auf einer jahrelangen Gipfelkette maßgeblich von der deutschen Bundesregierung durchgesetzt wurde. Und man glaubt es kaum, die EU-Kommission nennt auch deshalb erstmals selbst „die politische Antwort auf die Krise“ als mögliche Ursache der Stagnation.
Finanzieller Investitionsspielraum durch Konzertierte Aktion gegen Steueroasen
Einige deutsche Ökonomen reden plötzlich nervös von einer weiterhin langfristigen Stagnation der Eurozone, was völlig unrealistisch ist, weil die EU die weitere Extrapolation der Krise in der Eurozone nicht aushält, ohne an den wachsenden Interessengegensätzen zwischen ihren Musterschülern und den Krisenländern zu zerbrechen.
Welche Konsequenzen müssen wir daraus alternativ zum Denkansatz des Sachverständigenrats ziehen?
– nach Karl Popper, dem großen Philosophen des „Kritischen Rationalismus“, ist erfolgreiche Politik nur durch die permanente Korrektur sichtbar gewordener Fehler möglich. Das neue EU-Parlament und die neue EU-Kommission sollten daher die überfällige Korrektur des gescheiterten einseitigen Austerity-Kurses durchsetzen. Die deutsche Bundesregierung ist zur Unterstützung dieser Korrektur in besonderer Weise verpflichtet, weil Berlin für das gescheiterte Krisenmanagement in der Eurozone prägend war. Dieser fehlerhafte Kurs hat in der Eurozone nachweislich die Schulden massiv erhöht und die Arbeitslosigkeit in den Krisenländern unerträglich gesteigert. Dort hat die Hälfte der Jugendlichen keinen Job!
– Der Reformbegriff darf dabei nicht länger deformiert werden: Wirklich wirksame Reformen sind ordnungspolitisch oder administrativ ausgerichtet. Sie flexibilisieren nicht nur staatliche Entscheidungsprozesse oder den Arbeitsmarkt, sondern schaffen auch eine leistungsfähigere und gerechtere Verwaltung, z.B. in der Steuerverwaltung.
– Prozyklische Nachfrageschrumpfung in Krisenländern durch brachiale Kürzungen mitten in einer galoppierenden Rezession ist dagegen als kontraproduktiv zu vermeiden. Seriöse Haushaltspolitik ist ein selbstverständliches Grundprinzip, aber die finanzielle Konsolidierung kann nur in Wachstumsphasen erreicht werden.
– Dies setzt in der Eurozone ein nachhaltiges Wachstum durch eine deutliche Erhöhung des öffentlichen und privaten Investitionsniveaus und eine ausreichende private Kaufkraft voraus. Das auf drei Jahre verteilte und erst ab 2016 anlaufende Investitionsprogramm von Wolfgang Schäuble ist in diesem Zusammenhang eher als psychologische Ersatzhandlung zu werten. Aber immerhin löst es vielleicht Nachahmungseffekte aus.
– Deutschland muss in der EU konsequent die bisher nur angekündigte konzertierte Aktion gegen heute noch legale Steuertricks in Steueroasen, auch und gerade in Luxemburg, Irland oder in den Niederlanden vorantreiben. Bisher entziehen sich bekannterweise Unternehmen mit horrenden Gewinnen über solche Oasen weitgehend der Besteuerung, während sie dadurch Mittelständler aus dem Markt drängen können.
– Dies ist auch ein entscheidender Ansatzpunkt für die notwendige gerechtere Verteilung von Vermögen und Einkommen in Europa. Das von dem französischen Ökonomen Thomas Piketty in seinem Weltbestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ angeprangerte Auseinanderdriften von Vermögen und Einkommen ist jedoch nicht nur eine gesellschaftliche Gerechtigkeitsfrage.
– Gerade durch eine spürbare Verteilungskorrektur sind öffentliche Infrastrukturprogramme und eine Stärkung der Massenkaufkraft finanzierbar. Der New Deal des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt hat dafür in den 1930er Jahren mit der gleichzeitigen Schaffung eines breiten amerikanischen Mittelstands ein Modellkonzept gegen alle Widerstände durchgesetzt, das gerade heute für Europa hochaktuell ist.
Bildquelle: Sachverständigenrat
Der Kern der europäischen Wirtschaft sind mittlere und kleinere Unternehmen. Die schaffen Arbeit und Wohlstand. Nicht die steuersparenden Aktiengesellschaften in den Händen angloamerikanischer Finanzunternehmen. Jeder cent Bilanzueberschuss ist im Prinzip verschenkter Wohlstand des jeweiligen Volkes. Aus diesem Blickwinkel haben die Weisen von Tuten und Blasen keine Ahnung oder [aus rechtlichen Gründen hat die Redaktion den Kommentar an dieser Stelle gekürzt]. Zum Erzielen von Wachstum bedarf es nicht mehr Geld sondern einer höheren Umlaufgeschwindigkeit. Daraus wird natürlich nichts, wenn die Finanzmaerkte dieses Geld aufsaugen. Nichts ist so falsch wie marode Finanzbuden zu retten. Die Märkte müssen geschrumpft werden.
Es sollte eine konsequente Ausrichtung politischer Maßnahmen auf die Realwirtschaft gefordert werden. Die Beurteilung über die Wirkung sollte hierbei ansetzen und nicht in ökonomischen Theoriewelten und Prognosen. Die EZB erhöht die Geldmenge mit dem Ziel die Kreditvergabe für Investitionen anzukurbeln und in der Wirtschaft kommt davon nichts an. Ein Beispiel für das Versagen der europäischen Politik. Der Zwang zu Sparmaßnahmen ist ein weiteres Übel, da auch hier nicht die Ursachen bekämpft werden sondern die Symptome. Die Ankündigung eines Investitionspaketes zeigt doch ein Stück weit die Einsicht, dass mit Sparmaßnahmen mittelfristig kein wirtschaftlicher Aufschwung realisierbar ist.