Vor einem Jahr war ihm Hochachtung und Wertschätzung von allen Seiten gewiss. Aus einem mageren Wahlergebnis hatte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel in den Koalitionsverhandlungen mit der Union einen Vertrag hinbekommen, den die Medien und die eigene Partei als „äußerst sozialdemokratisch“ lobten: Flächendeckender Mindestlohn, Aufweichen des Rentenalters von 67 Jahren nach unten. Kernforderungen aus dem Wahlkampf der SPD. Die Partei war mit diesem Verhandlungsergebnis ihres Parteivorsitzenden so zufrieden, dass sie ihn bei der Mitgliederbefragung mit einer überwältigenden Zustimmung zur großen Koalition belohnte.
Gabriel war im Zenit seiner Macht: Als er Anfang Dezember das für ihn ausgezeichnete Ergebnis des Mitgliedervotums verkündete, scharte sich die gesamte Parteispitze hinter ihm. Und viele, die sich in der Endphase des mühsamen Wahlkampfs schon Gedanken gemacht hatten, wie man Gabriel loswerden könnte, mussten das Verhandlungsgeschick als Meisterleistung Gabriels akzeptieren. Der wiederum bedankte sich mit Schmeicheleinheiten an die gesamte Partei, auch an diejenigen, die nicht zu seinen Freunden gehörten.
Ein Jahr danach hat es sich mit Schmeicheleinheiten. Der Ton ist wieder rauer geworden. Ein ums andere Mal blafft Gabriel Andersdenkende in den Führungsgremien der Partei oder in der Fraktion an, verhängt Maulkörbe und beansprucht die Deutungshoheit der Themen für sich. Während ein Teil der Genossen über den „am schlechtesten gelaunten Parteivorsitzenden aller Zeiten“ frotzelt, lästert der andere Teil, vor dem Hintergrund des anhaltenden Stimmungstiefs der SPD sei er doch noch bestens gelaunt.
Trotz gewaltiger zutiefst als sozialdemokratisch empfundener Veränderungen bei Mindestlohn und Rente hat es in der Zustimmung der SPD bei den Wählern keine Bewegung nach oben gegeben. Sie dümpelt im Bund seit Monaten bei 25 bis 26 Prozent vor sich hin, während die Union auf einer Zustimmungswelle von mehr als 40 Prozent schwimmt. Nirgendwo scheint etwas in Sicht, was die SPD aus diesem Keller wieder näher an die Spitze heranführen könnte. Denn das wissen sie alle, erst ab einer Größenordnung von 30 Prozent plus X macht es Sinn, wieder mal über eine Koalitionsregierung unter SPD-Führung auf Bundesebene nachzudenken.
Nein, es bewegt sich nichts im Dunstkreis der SPD und das gilt auch auf Länderebene, wo die Partei ja noch in erstaunlich vielen Regierungen mitwirkt oder diese sogar steuert. Da kann man hinschauen wo man will, überall Stillstand und Stillstand bedeutet nun mal Rückschritt. Sogar im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW, das die SPD nach dem Wahldesaster 2005 den „Schwarzen“ 2010 wieder abknöpfen und 2012 den Vorsprung ausbauen konnte, tritt man auf der Stelle. Man sucht nach Erfolgen, nach Fortschritt, vergebens. Probleme gibt es zuhauf, ob auf der Straße, der Schiene, den Brücken, im Umgang mit den Flüchtlingen und auf der verzweifelten Suche nach menschlichen Unterkünften. Die Zukunft von Thyssen-Krupp ist nicht geregelt, NRW muss um seine Rolle als Industrieland Nr. 1 in Deutschland kämpfen. In wenigen Jahren wird die letzte Kohle gefördert.
Die Krawalle neulich in Köln haben nicht dazu beigetragen, das Ansehen der Regierung um Hannelore Kraft zu mehren, auch wenn hier nicht die Schuldfrage gestellt werden soll. Aber wenn man regiert und den Innenminister stellt, wird immer auch von der politischen Verantwortung die Rede sein, zumal wenn der Minister Ralf Jäger heißt, der sich in den wenigen Oppositionsjahren den Beinamen „Jäger 90“ erwarb, weil er sehr forsch auftrat und Pannen der konservativ-liberalen Regierung schnell mit Rücktrittsforderungen verband.
Die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft schwebte lange auf einer Welle der Sympathie in ganz Deutschland. Nicht wenige Sozialdemokraten sahen in ihr schon mindestens die nächste Kanzlerkandidatin, aber dann schloss sie ihren Gang nach Berlin aus. „Nie, nie“ werde sie das. Das mag Sigmar Gabriel gefallen haben, weil er damit eine Konkurrentin um die Spitze der Partei und darüber hinaus losgeworden ist, geholfen hat dieser Verzicht der großen Sympathieträgerin aus Mülheim nicht. Sie ist weiter sehr beliebt, hat sich aber ein wenig aus der Berliner Diskussion zurückgezogen, was ihre Partei aber nicht nach vorn gebracht hat. Denn mit Hannelore Kraft hatte man Hoffnungen verbunden, eine andere Politik. Ihr Satz, kein Kind zurücklassen, hätte der Kern einer neuen SPD-Programmatik sein können.
Kein Konzept weit und breit, Herr Gabriel. Wo angreifen, ohne dass die Kanzlerin ihm und der SPD nicht wieder die Butter vom Brot nimmt? Vielmehr muss die SPD aufpassen, dass ihr nicht der Koalitionspartner, die Grünen, verlustig geht. Hessen lässt grüßen. Denn wenn es hier passt, wird es auch woanders funktionieren. Darauf kann die SPD wetten, dass die Grünen sofort auf die andere Seite wechseln würden, falls es mit der SPD nicht mehr reichen sollte. Das gilt auch in Baden-Württemberg, wo 2016 ein neuer Landtag gewählt wird. Es ist mehr als fraglich, dass es im Ländle noch einmal eine solche Konstellation geben wird wie zuletzt, als eine Grün-Rote-Mehrheit den ersten Grünen-Regierungschef Kretschmann wählte. Die SPD wirkt im Südwesten noch schwächer als früher. Es ist kaum anzunehmen, dass sie beim nächsten Urnengang wesentliche Fortschritte machen kann.
Ähnlich schwach das Bild der SPD in Bayern, in Thüringen und in Sachsen. Selbst in früheren Hochburgen wie in Brandenburg glänzt die Partei nicht, sondern konnte ihre Position mit etwas über 30 Prozent der Stimmen gerade mal so halten und den Ministerpräsidenten stellen. Und in Berlin droht nach dem angekündigten Rückzug von Klaus Wowereit bei der nächsten Wahl der Gang in die Opposition, es sei denn, die SPD berappelt sich unter der Führung von Müller.
Die SPD wirkt wie eine Gefangene in der großen Koalition. Man schwimmt mit der anderen Volkspartei, fällt aber Zug um Zug zurück. Das Regierungsprogramm wird abgearbeitet, ohne großen Streit, ja, man hat den Eindruck, dass Gabriel darum bemüht ist, überall für Ausgleich und Ruhe zu sorgen. Damit nimmt sich die Partei aber die Möglichkeiten, sich zu profilieren als Arbeitnehmerpartei, als Partei der linken Mitte, der Mitbestimmung, als Partei, die sich zugleich um den Mittelstand kümmert, um die Jugend, die nach Motivation sucht, um die Alten, die man nicht vernachlässigen darf. Wo ist der außenpolitische Kurs dieser Partei, die einst unter Willy Brandt die Politik in Europa mitprägte? Der Friede ist der Ernstfall, hat einst Bundespräsident Gustav Heinemann gesagt, ein Kernsatz, der die Richtschnur bilden könnte für den künftigen Umgang mit Russland, mit der Ukraine. Russland muss in die Politik in Europa einbezogen werden, Berlin kann, muss hier zusammen mit Frankreich eine Führungsrolle übernehmen. Dass fällt schwer in einer großen Koalition, deren Führungspersonal sich und dem ganzen Land zu viel Ruhe verordnet hat.
Schweigend wird Gabriel nicht weiterkommen. Der Mann nach Schröder, hieß es vor Jahren, als der Niedersachse gerade Kanzler und Gabriel kurzzeitig Ministerpräsident geworden war. Daraus hat er nicht viel gemacht. Er ist Vorsitzender der SPD, das ist nicht wenig, aber das wird für den weiteren Weg nach oben nicht reichen.
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Sigmar Gabriel auf der Bank der Bundesregierung im Deutschen Bundestag zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, im Hintergrund Christian Schmidt und Ursula von der Leyen, 2014.