Mit der Veröffentlichung des vierten Bandes seines Roman-Zyklus hat der Kölner Schriftsteller Erasmus Schöfer sein Prosawerk über die jüngere deutsche und europäische Geschichte zwischen 1968 und 1990 abgeschlossen. Wie in den drei Romanen zuvor werden aus der Perspektive von Beteiligten die politischen und gesellschaftlichen Konflikte dieser Jahre literarisch rekonstruiert. Dabei nimmt Schöfer nicht die Position des distanzierten Betrachters ein, der aus heutiger Sicht auf die Ereignisse von damals zurückblickt. Vielmehr zeigt er aus der Perspektive der jeweiligen Protagonisten, wie sich diese durch ihre aktive Teilnahme an den zentralen Auseinandersetzungen dieser Jahre entwickeln. Wie sie in den jeweiligen Situationen gedacht, gefühlt und gehandelt haben. Welche Hoffnungen, Enttäuschungen und Niederlagen sie geteilt haben. So kann nur einer schreiben, der selbst in diese Auseinandersetzungen involviert war, der sie als aktiv Beteiligter aus der Binnenperspektive kennt.
In dem ersten Roman seines Zyklus mit dem Titel: Ein Frühling irrer Hoffnung, schildert Schöfer die Ereignisse des Jahres 1968: den Kampf um eine demokratische Hochschulreform; die Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg; die Unruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke; die Anti-Springer Kampagnen; die Demonstrationen gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Schöfer zeigt, wie diese Ereignisse im Leben seiner Hauptakteure – dem Historiker Bliss und seiner Frau Lena, die als Gewandmeisterin an den Münchener Kammerspielen arbeitet – ihre Spuren hinterlassen. Wie sie aus ihrem normalen bürgerlichen Leben herausgerissen werden. Wie sie sich sukzessive in die Ereignisse verstricken. Wie sie sich ihrer persönlichen Prägungen durch Kindheit und Schule bewusst werden. Wie sie versuchen, ihre Hemmungen und Ängste zu überwinden. Und wie sich ihre persönliche Beziehungsgeschichte entwickelt. Das versucht Schöfer durch die Konfrontation der privaten Lebensgeschichten mit den historischen Ereignissen spannungsreich zu entfalten.
Im zweiten Roman mit dem Titel Zwielicht zeigt Schöfer, wie sich im Verlauf der siebziger Jahre viele der Reformanstöße der Achtundsechziger weiterentwickeln. Neue Bereiche einer bisher unterschlagenen Wirklichkeit werden zum Gegenstand von Literatur: die Arbeitswelt und die Umwelt.
Bei der literarischen Darstellung des Kampfes um den Erhalt der Glashütte Süßmuth und eines Stahlwerks von Mannesmann sowie gegen das Atomkraftwerk Wyhl entwickelt Schöfer ein ganze Spektrum von Stilformen – Montage; Tagebucheinträge; Protokolle; Reportage; Dokumentation – die dazu beitragen, die Authentizität der Ereignisse präzise herauszuarbeiten.
Beeindruckend, mit welcher Sensibilität er die konkreten Ereignisse und die in sie involvierten Personen mit ihren Stärken und Schwächen schildert. Wie überhaupt die literarische Aussagekraft dieser Romane darin besteht, dass Schöfer durch die Konfrontation der persönlichen Geschichten der Akteure mit den situativen gesellschaftlichen Kontexten, einen Spannungsraum erzeugt, der von beachtlicher Erzählkunst zeugt.
Dass diese Art Literatur nicht im luftleeren Raum entsteht, zeigt Schöfer, wenn er von den Auseinandersetzungen im und um den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt erzählt, an denen er selbst maßgeblich beteiligt war. Mag diese Bewegung (wie so vieles andere) auch letztlich in einer Sackgasse geendet haben – es bleibt spannend nachzuvollziehen, mit welchem Elan damals darüber diskutiert wurde, wie die weitgehend unbeachtete Lebens- und Arbeitswirklichkeit von Arbeitern literarisch adäquat dargestellt werden kann.
Im dritten Band Sonnenflucht erweitert der Autor das Handlungsgeschehen um die Schilderung der politischen Verhältnisse in Griechenland. Dorthin hatte sich die Hauptfigur Bliss nach etlichen politischen und persönlichen Niederlagen zurückgezogen, um mit seinen eigenen Beschädigungen körperlicher und psychischer Art fertigzuwerden. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Betriebsrat Anklam, der versucht, Bliss aus dem griechischen Exil zurückzuholen, erlebt er die Ereignisse des Sommers 1980 in Athen und den Tod einer jungen Kommunistin während einer Demonstration. Dieser Tod und die anschließende Trauerfeier können als Symbol für die Niederlage der europäischen Linken gelten. Auch in diesem Roman gelingt es Schöfer erneut, die persönlichen Geschichten der Akteure mit den gesellschaftlichen Ereignissen dieser Jahre zu verschränken.
Der vierte Band Winterdämmerung schließt den Zyklus ab. Er begleitet die Romanfiguren durch die 1980er Jahre bis zum Fall der Berliner Mauer. Noch einmal werden exemplarische gesellschaftliche Konflikte (der Kampf gegen die Startbahn West und für den Erhalt des Stahlwerks Reinhausen) thematisiert, die ebenfalls in Niederlagen münden. Während am Brandenburger Tor der Fall der Mauer gefeiert wird, führt Schöfer seine Protagonisten in der Silvesternacht 1989 noch einmal zusammen – zu einer privaten Silvesterfete und – wenn man so will – zu einem vorläufigen Ende mit ungewissem Ausgang.
Indem Schöfer sich einer Vielzahl literarischer Stilmittel bedient, bildet er einen ganz eigenen Stil aus: Durch wechselnde Erzählperspektiven; die konzentrierte und präzise Darstellung der historischen Details; die glaubwürdige, authentische Konstruktion der Protagonisten. Und durch die Verlebendigung bedeutender Persönlichkeiten dieser Jahre, wie etwa den einfühlsam geschilderten Hochschullehrer Wolfgang Abendroth – einem Fossil in der bundesrepublikanischen Hochschullandschaft: Antifaschist; Demokrat; Sozialist und Wissenschaftler zugleich.
Bei aller Involviertheit in die Geschehnisse, die man häufig regelrecht körperlich zu spüren glaubt, gelingt es Schöfer dennoch, eine gewisse kritische, auch ironische Distanz zu wahren. Er verfügt über literarische Mittel, die es ihm gestatten, alles Ideologische zu hinterfragen und ein gewaltiges Kompendium historischer Fakten in überzeugender Weise zu bewältigen.
Wer den von Schöfer geschilderten Zeitabschnitt bewusst erlebt hat, wird sich nicht nur an viele Begebenheiten zurückerinnern. Er wird auch mit Einsichten konfrontiert, die zum Nachdenken anregen. Für den, der diese Zeit nur vom Hörensagen kennt, mag der Romanzyklus eine Fundgrube für Zeitgeschichte sein. Es ist im besten Sinne engagierte Literatur – nicht im Sinne einer unhinterfragten Parteilichkeit, sondern einer Verantwortung des Schriftstellers für die wahrheitsgemäße Darstellung der Wirklichkeit, was einschließt, die Dinge beim Namen zu nennen (Sartre).
Bildquelle:Wikipedia, Skulpturenpark Rees 2016, Ernesto Marques – Sisyphos, Pieter Delicaat, CC BY-SA 4.0