Es gibt Dutzende Verbände und Interessenvertretungen im Pflegebereich. Sternfahrten nach Berlin? Demos vor dem Brandenburger Tor? Fehlanzeige. Es gibt sogar in einigen Bundesländern sogenannte „Pflegekammern“, in die die Fachkräfte der Pflege zwangsweise eintreten müssen, damit sie ihren Beruf ausüben dürfen; damit die Pflege insgesamt gesellschaftlich- politisch ein stärkeres Gewicht bekomme, sagen Befürworter. Aber die Pflegebedürftigen hat das nicht gestärkt.
Es hagelt stattdessen Vorwürfe: In manchen Einrichtungen lasse man die Pflegebedürftigen verkommen. Manche Pflegekräfte seien abweisend und lieblos. Pflegeheimbetreiber seien Ausbeuter und Absahner. Sie ließen Arbeitshetze und einen rigiden Kapitalismus zu. Vornehmlich private Betreiber werden genannt. Obwohl in kommunalen und kirchlichen Einrichtungen die Verhältnisse nicht anders sind als in privaten. „Die Politik“ habe geschlafen. Und so weiter.
Seit einem Vierteljahrhundert gibt es in Deutschland die Pflegeversicherung. Bis zum 1. Januar 1995 war Pflege eine Sache kirchlicher Einrichtungen oder weniger privater Pflegeheime, in denen sich unterbringen lassen konnte, wer genügend Rücklagen besaß. Der Bundestag schuf 1994 einen Rechtsanspruch auf Pflege und die Pflicht eines jeden, einer Pflegeversicherung beizutreten. Beschlossen wurde das entsprechende Gesetz, weil die Zahl der pflegebedürftigen Menschen anwuchs und von denen ein immer größerer Teil auf das Sozialamt angewiesen war, wenn Pflegebedürftigkeit festgestellt wurde. Der Gang zum Sozialamt sollte überflüssig werden. Das Gesetz war das Ergebnis von Kompromissen zwischen den großen, sozial sensiblen Teilen von CDU/CSU, sozialliberal denkenden in der FDP und der SPD.
Der Gesetzgeber hat damals der Pflege auferlegt, überall im Land dieselben Leistungen anzubieten. Die wenigen kommunalen Pflegebetriebe, kirchliche oder freigemeinnützige Pflegeanbieter sowie privatwirtschaftliche Heimbetreiber sollten sich einen Wettbewerb um die beste Pflege bieten, so das Parlament.
Das Gesundheits-„System“ hat auf das neue Betätigungsfeld so reagiert, wie es trainiert worden war: Rational. Die Pflegebedürftigkeit wurde zerlegt. Die Pflegebedürftigen wurden begutachtet, einsortiert, vermessen, eingeordnet, Pflege in Zeitaufwand mal Geldaufwand umgerechnet. Das kann man dem System nicht mal vorwerfen, denn es war darauf getrimmt, Beiträge möglichst effizient und sparsam auszugeben. Aus Gebrechen wurde ein „Fall“.
Dieses Verfahren war keine Erfindung der Pflegeheim- Betreiber. Weder der kirchlichen noch der AWO oder der Privaten. Sie hatten es anzuwenden. Parallel entwickelte sich eine rege wissenschaftliche Beobachtung der Pflege, die zur Verbesserung der Pflegepraxis, von Ausbildung und zu neuen Arbeitsmodellen führte. Das interessierte manche Medien allerdings weniger.
Heute arbeiten in der Altenpflege insgesamt über 1,1 Millionen Menschen. Nach Angaben des Spitzenverbandes der Krankenkassen beliefen sich die Pflegeausgaben 2017 auf über 37 Milliarden Euro: Wertmäßig entspricht das einem Drittel des Exports in die USA. Die Pflege ist zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig geworden.
Die Pflegewirtschaft ist aber kein Wirtschaftszweig wie andere: Die Umsätze, die ein Pflegebetreiber erzielen kann, sei er privat ausgerichtet oder kommunal, die sind in mehrerer Hinsicht administriert und begrenzt: Er erhält bis auf den Euro jährlich ausgehandelte Mittel von den Pflegekassen. Ferner überweisen die auf Sparsamkeit fixierten Sozialämter Geld, weil die Eigenmittel des Pflegebedürftigen nicht reichen, um die Pflege zu bezahlen. Schließlich finanzieren Rente, Pension oder Rücklagen die Pflegeunternehmen. Eigentlich sollte das reichen, um die Sozialämter raus zu halten. Aber fast 30 Prozent der im Heim untergebrachten Pflegebedürftigen brauchen zusätzliches Geld vom Sozialamt.
Zusätzlich werden die Preise von innen her administriert, weil ein Pflegebetrieb vertraglich zusichern muss, Personalquoten einzuhalten, festgelegte Service- und Unterbringungsstandards und anderes mehr vorzuhalten. Bis vor kurzem war noch hoch umstritten, ob Pflegebetriebe, stationär oder ambulant, überhaupt so etwas wie den Unternehmerlohn erwirtschaften dürften. Es ist ein aus sozialen Gründen zweifach gefesselter „Markt“.
Wenn ihr nicht spurt, so war vor allem an die Adresse der Privaten gerichtet zu hören, dann überlegen wir uns, ob wir euch nicht abschaffen. Der Bremer Pflegewissenschaftler Rothgang war verblüfft, weil er feststellte, dass über 50 Prozent der ambulanten Dienste und 40 Prozent der stationären Einrichtungen privat- wirtschaftlich betrieben werden. Abschaffen, meinte er, das gehe nicht. Wer soll sie ersetzen?
Seit Jahren stehen freilich in der Pflege einige Ampeln auf Rot. Seit 2011 hat zum Beispiel der Bundesverband der privaten Pflegeanbieter gewarnt, dass sich die Lücke zwischen der Personalausstattung in seinen Einrichtungen und dem notwendigen Personalbestand immer weiter öffne. Der Verband schickte seine Leute durch die ganze Welt, um gut ausgebildete Pflegerinnen und Pfleger anzuwerben – was auch gelang, aber in Deutschland auf länderspezifische Hürden traf beziehungsweise auf Bürokraten, die meinten, wer im deutschen Pflegeheim arbeite, der müsse mit der deutschen Sprache umgehen können wie Eduard Mörike oder Hermann Hesse. Und selbst heute noch, zu Zeiten von AA- Chef Maas müssen Verbandsvertreter lange warten, bevor sie zum Beispiel in der deutschen Botschaft zu Belgrad einen Termin zwecks Anwerbe- Abwicklung bekommen.
Die Lage spitzt sich zu. In nordrhein-westfälischen Pflegeheimen sind kaum noch Plätze frei. „Wir haben wieder Wartelisten“, erklärte Katrin Moormann, Sprecherin der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Westliches Westfalen jüngst. In die gleiche Kerbe schlägt der Caritas-Verband, der in NRW 250 Heime organisiert. Die privaten Anbieter mit 1700 Einrichtungen im Land: „Die Situation ist dramatisch“. Gründe für die dramatische Lage seien der Mangel an ausgebildeten Pflegerinnen und Pflegern sowie unzureichende Abschreibungsmöglichkeiten für Investoren. „Dadurch ist es oft kaum noch möglich, Heime wirtschaftlich zu betreiben“, kritisiert Anne Eckert, Referatsleiterin Altenhilfe beim Caritas-Verband.
Experten rechnen 2050 mit über 4,5 Millionen Pflegebedürftigen. In zehn Jahren werden es deutlich mehr als 3,5 Millionen sein (die Einwohnerzahl Berlins). Dann werden nicht mehr 800 000 auf einen Platz im Pflegeheim angewiesen sein, sondern es werden 1,1 oder 1,2 Millionen sein. Vielleicht auch mehr Menschen. Alle Welt spricht davon, dass auch künftig 70 Prozent der Pflegebedürftigen vor allem von der Familie daheim betreut werden würden. Vor einiger Zeit hat die Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung (GMS) die Pflegebereitschaft analysiert. Sie fand heraus, dass der Prozentsatz, der die Eltern daheim zu pflegen bereit ist, rapide sinkt, wenn die dabei auftretenden Belastungen und persönlichen Verzichte realistisch erörtert werden. Also ist Vorsicht bei den Annahmen über die Unterbringung von Pflegebedürftigen geboten.
Bliebt es bei den 70 Prozent, hätte das gravierende Auswirkungen auf die Bautätigkeit: Es werden Hunderttausende Wohnungen so angelegt werden müssen, dass Pflegebedürftige in ihnen ordentlich gepflegt werden können. Es werden aber auch mehr Pflegeheime gebaut werden müssen. Wo werden die Mittel hierfür herkommen? Bereits 2012 war in einer Expertise im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums zu lesen, allein die Erneuerungsinvestitionen für den Bestand an Heimen betrügen weit mehr über 100 Milliarden Euro.
Die Generation der Pflegeheim-Gründer und Geschäftsführer, die nach 1994 gerackert hat, tritt allmählich ab. Manche sind ob der gewachsenen Bürokratie ernüchtert, viele abgearbeitet. Ein Teil verkauft seine Heime an Pflege-„Ketten“. Die Curanum AG hat weit über 13 000 Pflegebetten. 2013 hatte sie beispielsweise Phönix mit über 100 Einrichtungen geschluckt. Curanum wiederum gehört der französischen Korian-Gruppe, dem Marktführer für Pflegeeinrichtungen in Deutschland und Frankreich, Italien und Belgien (72 000 Betten). Drittgrößter Pflegeheimbetreiber ist Casa Reha. Dahinter stand der englische Investor HgCapital und dahinter wiederum erschien Merill Lynch „am Horizont“, bevor sich die Korian-Gruppe Casa Reha einverleibte. Parlamente und Regierungen in Deutschland sollten gut aufpassen, dass nicht im Bereich der Pflege ähnliche Verhältnisse entstehen wie auf dem Wohnungsmarkt. In Zeiten der Nullzinsen sind Renditen um die fünf oder sechs Prozent attraktiv.
Eine andere Ampel steht auf der Straße zur Ausbildung. Die Bundesregierung hat die Ausbildung der Kinder-, Kranken- und Altenpflege zusammengeführt. Da die Pflegerinnen und Pfleger in den Krankenhäusern traditionell besser entlohnt werden als die in den Altenheimen, wird die Abwanderung in die Krankenhäuser anschwellen. Die Pflegerinnen und Pfleger in den Krankenhäusern werden seit kurzem zudem nicht mehr aus den Fallpauschalen der Krankenhäuser bezahlt, sondern direkt von den Kassen finanziert. So kehrt das frühere, zwischenzeitlich als zu kostentreibend verworfene Kostendeckungsprinzip zurück. Durchschnittliches Brutto einer Fachkraft in der Krankenpflege 2017: 3340 Euro. Der Vergleichswert in der Altenpflege: 2750 Euro. Dagegen kommt die Altenpflege nicht an, die sich jährlich mühsam durch Verhandlungen boxen muss.
Die härteste Auseinandersetzung steht der Pflege in den kommenden Monaten bevor. Der Bundesarbeitsminister will in der Altenpflege flächendeckend Tarifentgelte durchsetzen. Das ist eine plausible Forderung, allerdings hat sie angesichts der herrschenden Umstände kaum eine Chance auf Realisierung. Während der vergangenen Monate lief in Niedersachsen ein Konflikt, der einen Vorgeschmack lieferte. Die dortigen ambulanten Pflegedienste der Arbeiter Wohlfahrt und der Diakonie mit etwa 5000 Beschäftigten und über 16 000 zu versorgenden Pflegebedürftigen drohten, ihre Arbeit einzustellen. Der Grund: Die Kranken- beziehungsweise Pflegekassen lehnten es ab, den beiden Verbänden die Löhne und Gehälter zu refinanzieren. Beide, AWO und Diakonie zahlen nach Tarif, die Diakonie nach ihrem speziellen Kirchen-Tarif. Wie dramatisch die Situation bereits vor diesem Konflikt war, zeigt eine Datenerhebung: von 87 ausgewählten, für die Branche repräsentativen ambulanten Betrieben, schrieben 63 rote Zahlen. Das bedeutet, dass über 70 Prozent keine Chance haben, wirtschaftlich zu überleben. Eine Wegepauschale von 3, 88 Euro müsse reichen, um oft zehn oder 15 Kilometer zu fahren, erzählte ein Pflegedienst. Ein AOK-Repräsentant antwortete laut NDR: „Im Einzelfall sind diese drei Euro etc. nicht angemessen, weil diese Tour wesentlich weiter ist. Sie müssen aber das große Ganze sehen.“ Na so was!
Tiefes Misstrauen ist die kennzeichnende Einstellung hier. Die Bundesregierung sieht eine Art „gordischen Knotens“. Sie will ihn durchhauen. Man will eine bundesweite Tariflösung. Ver.di ist allerdings im Schnitt mit weniger als zehn Prozent Organisationsgrad in den Betrieben der Altenpflege vertreten. Die Gewerkschaft hat also im Klartext dort nichts zu sagen.
Pflege- Arbeitgeber haben gefordert, eine neue Mindestlohn- Kommission zur Pflege zu bilden. Die soll beraten, was zu tun ist. Dem Vernehmen nach will man im Apparat des Arbeitsministeriums die Kommission von früher acht auf sechs Mitglieder verkleinern und die Geschäftsordnung so ändern, dass unbequeme Mitglieder rascher verabschiedet werden können. Der Fall wird vor den Gerichten landen. Die privaten Pflegeanbieter befürchten, dass durch einen Bundestarif kleine Pflegeanbieter schnell aus dem Wettbewerb gedrängt würden. Pflege-Ketten stehen ja bereit. Will man das? Am Ende wird man sich in Karlsruhe treffen.
Bestand und Ausbau der Pflege sind eine nationale Aufgabe. Alle heute Beteiligten werden in der Zukunft benötigt. Wer das ignoriert, wird erleben, dass die Pflege wie ein Tsunami über unser Land fegen.
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Zwischen Fachkräftemangel und Wirtschaftlichkeit. Sehr ausführlicher Beitrag. Er zeigt deutlich in welcher prekären Situation sich der Pflegesektor bewegt. Bin gespannt wie da die Politik gegensteuern möchte.
LG Danilo