Wer in den letzten Tagen die Debatte um Tempo 130 auf unseren Autobahnen verfolgt hat, kann sich eigentlich nur noch ärgern, zumindest tue ich dies. Ein CSU-Verkehrsminister, der Vorschläge für ein derartiges Tempolimit einer von ihm selbst einberufenen Expertenkommission fast aus dem Bauch heraus abqualifiziert als gegen den gesunden Menschenverstand gerichtet, eine CDU-Vorsitzende, die von einer Phantomdebatte spricht, ein Regierungssprecher, der von intelligenteren Maßnahmen fabuliert, eine SPD-Umweltministerin, die sich partout nicht zu einer eigenen Meinung, geschweige denn einer Vertretung früherer Parteitagsbeschlüsse durchringen kann: Es scheint, dass sich nicht Union und SPD, sondern die Diesel-Partei und die SUV-Fraktion zu einer großen Koalition zusammen getan haben und alle anderen politischen Strömungen überrollen wollen. Da ist offensichtlich ordentlich Druck der Autolobby auf dem politischen Kessel – und die Regierung allem Anschein nach beratungsresistent, um nicht zu sagen verstockt. Oder, um es mit einem anderen Bild auszudrücken: Man fühlt sich in der Wagenburg und schießt aus allen Rohren.
Klima- und Verkehrsexperten – einschließlich der Gewerkschaft der Polizei – wie auch die Mehrheit der Bevölkerung müssen sich für dumm verkauft vorkommen. Die reflexartigen Abwehrreaktionen und die „klare Absage“ durch den Regierungssprecher zeigen in aller Deutlichkeit, dass es noch ein langer Weg ist zum „Zuhören“, zum Dialog mit dem Bürger, zum „Bottom-up“-Ansatz des politischen Diskurses, was sich doch alle Parteien in letzter Zeit auf die Fahnen geschrieben haben. Und sie zeigen noch etwas anderes: Die „große“ Koalition bestimmt die Richtung nicht parlamentarisch, sondern gouvernemental, sprich, die Regierung sagt, wo es lang geht, und das Parlament kommt gar nicht mehr darum herum, dem zu folgen.
Jenseits aller Sachargumente für oder gegen ein Tempolimit: Politik ist oft kompliziert und nicht immer müssen oder können alle überzeugt werden. Aber wer so mit den Argumenten, Meinungen und Überzeugungen der Menschen in unserem Land umgeht, muss sich nicht wundern, dass Deutschland in dieser Frage in einem Atemzug mit Ländern wie Afghanistan oder Nordkorea genannt wird, die auch kein Autobahn-Tempolimit haben – aus welchen Gründen, kann man sich vielleicht denken, tut aber nichts zur Sache. Wer dies als Beleidigung versteht, sollte sich fragen, ob die Einwohner von Belgien, Frankreich, den Niederlanden oder Österreich, um nur einige Nachbarländer mit Tempolimit zu nennen, nicht eher beleidigt sein müssten angesichts des Niveaus der deutschen Debatte. Und ausgerechnet in den USA , dem Land der Freiheit und des Abenteuers, gelten schon seit Jahrzehnten strikte Limits. Wer einmal, wie ich, die Gelegenheit hatte, die Strecke von der Ost- zur Westküste mit dem Auto zurückzulegen und dann in umgekehrter Richtung noch einmal, der weiß, wie sich entspanntes und sicheres Autofahren anfühlt.
Und wer einmal, wie ich, erlebt hat, dass die eigene Tochter ohne dieses Tempolimit in den USA einen Unfall nicht oder nicht ohne bleibende Schäden überlebt hätte, der versteht vielleicht, warum ich mich nicht nur über die „Phantomdebatte“ ärgere, sondern auch über die Beratungsresistenz einzelner Akteure auf der Berliner Bühne. Ein Abwägen von Argumenten ist das Mindeste, was man erwarten kann. Was sich die oben Genannten gerade erlauben, ist vom Vorgehen her inakzeptabel und vom Inhalt her nicht sehr überzeugend, um es zurückhaltend auszudrücken. Anscheinend gelten Attribute wie christlich und sozial(-demokratisch) bei diesem Thema weniger als in anderen Zusammenhängen. Das ist mehr als ärgerlich, das ist ein Trauerspiel.
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