Was hat den FDP-Vorsitzenden Lindner geritten? Vermutlich die schlichte Erwartung, dass er im konservativen Wählermilieu auf Stimmenfang hofft und bei denkbaren Neuwahlen zu seinen zehn Prozent noch einige Prozente hinzugewinnen könnte. Das könnte ein Kalkül gewesen sein. Allerdings dürfte das der CDU/CSU mehr schaden als der AfD, die eher ebenfalls denkbarer Nutznießer dieser Rochade sein könnte. Am Ende stünde dann eine Parteienlandschaft, die sich dennoch von der gegenwärtigen Jamaika-Runde kaum unterscheiden würde.
Und die SPD? Die Absage an eine große Koalition der Wahlverlierer, wird sie halten? Es ist ja nicht unter der Decke geblieben, dass Sigmar Gabriel den Job des Außenministers gern weiter ausfüllen würde. Wenn der Druck in den nächsten Tagen auf die Sozialdemokraten steigt, wird sich schnell zeigen, ob es bei dieser Absage auch unter veränderten Bedingungen bleibt.
Für die SPD: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität
An den Gründen für die unmittelbare Absage an eine erneute GroKo nach Auszählung der Stimmen bei der Bundestagswahl hat sich nichts verändert. Zumal die SPD gerade dabei ist, die Mitglieder der Partei zu befragen, wie verloren gegangenes Vertrauen zurück gewonnen werden kann. Es ist schon jetzt ziemlich eindeutig, dass für die große Mehrheit der Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm zugleich den sozialdemokratischen Dreiklang Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität mit neuem Leben füllen muss.
Dazu gehört auch die Antwort darauf, wie viel Ungleichheit eine Gesellschaft ohne Selbstzerstörung verkraftet. Wenn zehn Prozent der Reichen und Superreichen in Deutschland über 60 Prozent des gemeinsam erarbeiteten Vermögens verfügen und der Rest sich auf ein weiteres Drittel der Mittelschicht verteilt, dann ist die Spaltung der Gesellschaft unübersehbar. Geringverdiener, und das sind vierzig Prozent der Arbeitnehmer, verfügen heute über weniger Einkommen als Mitte der 90-er Jahre. Das setzt sich fort in wachsender Abstinenz von Konzernen, Steuern und Abgaben auf immer höhere Gewinne zu zahlen. Das führt unter anderem dazu, dass Altersarmut wächst und jedes fünfte Kind in der Armutsfalle groß wird und allein erziehende Mütter regelmäßig den Armutsbericht der Bundesregierung bevölkern. Steuerflucht, wie sie die Paradise- oder die Panamapaper erzählen, und zu Milliarden auf Konten der Steuerparadiese landen, fehlen überall, um das herstellen zu helfen, was die SPD Zeit für Gerechtigkeit nennt.
75 Millionen im Nahen Osten unterwegs
Daneben nicht minder gewalttätig die zunehmenden Wüstenlandschaften auf der südlichen Seite des blauen Planeten. Schon jetzt sind Wassermangel und ausbleibender Regen und Herbststürme, die selbst unsere gemäßigten Klimazonen erreichen, Grund für immer mehr Menschen, sich aufzumachen und Hungerkarawanen sich in Bewegung setzen. Derzeit sind 75 Millionen Menschen weltweit im nahen und fernen Osten auf der Flucht vor Hunger und Not. Wenn die Gründe für die Völkerwanderung nicht erfolgreich bekämpft werden und der neue Egoismus nationalistischer Prägung nicht gestoppt wird, werden uns neue Kriege erreichen.
Da verwundert es, daß in den Sondierungswochen der Jamaikagruppe vor allem der Streit um Obergrenzen und Klimakiller notwendige Lösungen verschloss. Der Druck galt vor allem den Grünen, und ihren angeblich illusorischen Forderungen zur Durchsetzung der im UN-Klimaabkommen zugesagten Anstrengungen Deutschlands, die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu halten. Dieser Streit war für die FDP offenbar Hauptgrund dafür, das ungeliebte Bündnis scheitern zu lassen und sich kleinliche Vorteile auszurechnen.
Auch Kohlestrom nicht alternativlos
Dass auch die SPD, vor allem die Rot-Rote Landesregierung in Brandenburg, weiterhin so tut, als ob Kohlestrom und Braunkohleabbau alternativlos weiter geführt werden können, macht die Sache nicht besser. Auch hier geht es darum, Alternativen und Handlungsfantasie zu entwickeln und nicht einfach darauf zu hoffen, dass es schon nicht so schlimm werden wird. Es wird Zeit, dass die Politik wieder zu Entscheidungskraft zurückfindet und Lösungen anbietet, die einen Beitrag leisten können, unseren Kindern eine Erde zu hinterlassen, die ihnen nicht jede Zukunftshoffnung nimmt. Ebenso gilt es, die Konzerne und ihre Macht einzudämmen, und die Wirtschaftsführer daran zu erinnern, dass Gewinn- und Verlustrechnung nicht nur mit Rendite zu tun hat. Verantwortungsethik endet nicht vor den Werktoren.
Wenn also aus dem Scheitern der nächtlichen Sondierungen die richtigen Lehren gezogen werden, könnte sogar eine Minderheitenregierung sinnvoll sein. Voraussetzung wäre, dass die demokratischen Parteien sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Wer den Rechtspopulismus überwinden will, muss auch den Mut aufbringen, in fairem Streit neue Antworten zu suchen und wie es scheint Mehrheiten auch im Parlament.
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